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Deutsche Seiten, 23. 10. 2023
Vielen Dank für die Einladung und für die Gelegenheit, hier in Anif wieder einmal reden zu dürfen. Ich hatte die Rede ursprünglich für das geplante Treffen in März vorbereitet. Hoffentlich ist sie auch heute relevant. Dr. Wutscher hat mir den Titel schon damals vorgeschlagen. Er wollte von mir zu diesem Thema einen Vortrag. Das konnte ich nicht versprechen. Das Wort Vortrag klingt mir zu hoch, zu nobel.
Zum Thema „Ein freies Europa – ist es noch möglich?“ erlaube ich mir nichts mehr als ein paar Randbemerkungen zu machen. Zu diesem Thema kann man nicht einen kohärenten Vortrag halten. Das Thema ist zu breit und zu multidimensional. Wir haben nicht nur zu wenige harte Daten, aber – vor allem – wir haben keine Theorie. Es ist wie mit einer mathematischen Gleichung mit vielen unbekannten Variablen, die man nicht konstant oder exogen machen kann. Deshalb, nur meine Bemerkungen.
Die Bedeutung der Anif Tagungen
Es ist bekannt, dass ich regelmäßig und gerne nach Anif komme, so wie ich vor ein paar Jahren als Teilnehmer zum ähnlichen Treffen des Jagsthausener Kreises in Freilassing gekommen bin. Für einen Ausländer, der die Lage und Atmosphäre in Deutschland und Österreich nur in den offiziellen Medien und dazu nicht systematisch verfolgt, war die Teilnahme an diesen Tagungen immer eine unerwartete und ohne Zweifel positive Überraschung. Ich habe hier viel gelernt.
Insbesondere wusste ich nicht, dass so viele Menschen in Deutschland und Österreich anders denken, als man in den dort dominierenden Medien finden kann. Von außen sieht man das nicht. Das kann auch meiner Unaufmerksamkeit oder meiner Naivität geschuldet sein. Oder ist es mein implizites Vorurteil. Jemand kann sogar sagen, dass ich die Deutschen und die Österreicher unterschätze, weil ich nur ihre politischen Eliten vor den Augen habe, die ich aus meiner politischen Karriere kenne.
So eine Kritik bin ich bereit zu akzeptieren. In der kommunistischen Ära konnte ich nicht hierher reisen, seit dieser Zeit bin ich hier nur als Politiker gewesen. Nie länger als zwei, drei Tage.
Lange Zeit nach dem Fall des Kommunismus hatten wir, ich meine wir in Mittel- und Osteuropa, das Gefühl, dass wir – dank unserer Erfahrungen und Erlebnissen aus den kommunistischen Zeiten – die Welt, und besonders die Engpässe der modernen Gesellschaft, besser verstehen als die Westeuropäer, die solche tragischen Erfahrungen nicht hatten.
Trotzdem haben uns die Westeuropäer in diesen Jahrzehnten, besonders am Anfang, für unerwachsene und unreife Partner gehalten, die nicht imstande sind, die heutige Welt und alle Schönheiten des Westens zu verstehen. Das ärgerte uns enorm.
Die ganze Zeit, auch in der kommunistischen Ära, waren wir Teil des europäischen Denkens. Über den Westen waren wir viel besser informiert als die Westeuropäer über uns. Zum Beispiel, vor einem halben Jahrhundert hatten die Menschen - wie auch ich mit allen eigenen Sorgen und Problemen - Angst vor den Folgen der Kulturrevolution der sechziger Jahre. Wir haben in dieser Zeit vom Kapitalismus geträumt, während sie hier - in unseren Augen - gegen den Kapitalismus gekämpft haben. Trotz aller Schwierigkeiten konnten wir das über den Eisernen Vorhang hinweg sehen.[1] Die Grenzen der Ideen und Gedanken waren nicht komplett undurchdringlich, wenn man genügend motiviert war, sie zu überschreiten. Damals hatten wir die Entwicklungen hier als die Konsequenz der Ambitionen der Eliten, der Intellektuellen und der irregeführten Studenten interpretiert. Es war leider tiefer begründet.
Wir wissen und wussten, dass wir während der kommunistischen Zeit viel verloren und verpasst haben. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass wir damals auch etwas Wichtiges und Unwiederholbares gelernt haben, etwas, was die Menschen im Westeuropa nicht direkt lernen konnten. Wir haben die Substanz der Debatte über Freiheit und Unfreiheit durchlebt, nicht nur theoretisch studiert, und waren deshalb nicht bereit, uns mit einfachen Lehrbuchslogans zufrieden zu geben. Wir wurden – wie die Kanarienvögel in den Bergwerken - hoch empfindlich. Vielleicht sind wir noch heute infolge dessen überempfindlich.
Unsere Stellung zur heutigen westlichen Welt ist deshalb kritischer und ablehnender als hier. Wir sehen die heutige Situation als eine Zivilisationskrise des ganzen Westens.[2]
In den letzten Jahren haben wir uns erlaubt, Ähnlichkeiten zwischen der heutigen Welt und der Welt der spätkommunistischen Ära zu vergleichen, was einige Leute ärgert. Diese Ähnlichkeiten sind schon sichtbar für alle, die sie sehen wollen. Die heutigen Eingriffe in die Meinungsfreiheit sind mit denjenigen vergleichbar, die wir damals erlebt haben. Man kann heute nicht mehr frei sprechen, man muss um seine Karriere, seine Familie, seine Freiheit, ja sogar um sein Leben fürchten. Wie damals.
Jetzt befinden wir uns wieder in einer Ära der intellektuellen Konformität. Es geht nicht nur um die evidente Beschränkung der Meinungsfreiheit, sondern auch um die Akzeptanz der Herrschaft einer einzigen Ideologie, was mich an die totalitäre Natur des Kommunismus erinnert. Die globalistische, progressivistische Doktrin erweist sich nicht als Fortschritt, sondern als evidenter Rückschritt.
Meine Rede in Freilassing in 2018
Im April 2018 habe ich nicht weit von hier, in Freilassing, eine Rede mit dem Titel „Wohin führt uns die EU“ gehalten. Ich sagte explizit: „Man muss außerordentlich hartköpfig und unsensibel sein, um die tragischen Defekte der EU nicht zu sehen.“ Das war damals, und ist auch heute, ein provokativer Satz besonders von jemandem, der im Jahre 1996 als Ministerpräsident der Tschechischen Republik den offiziellen Antrag auf EU-Mitgliedschaft unterzeichnet und persönlich abgegeben hat.
Ich bemerkte auch, dass „die Defekte der EU Geburtsdefekte sind“, die durch partielle Reformen nicht beseitigt werden können. Auch das wollen die Politiker nicht hören. Deshalb spreche ich in meinen vielen Reden, und nicht nur in meiner Heimat, über den arroganten Konstruktivismus der heutigen Politiker und Ideologen, über die zunehmende Manipulation der Menschen, über die massive Indoktrinierung der jungen Generationen, über das wachsende demokratische Defizit, und dergleichen mehr.
Nach dem Fall des Kommunismus haben wir eine so massive, so feindliche und so arrogante Durchsetzung solcher Tendenzen und Entwicklungen nicht nur nicht erwartet, wir konnten uns etwas Ähnliches nicht einmal vorstellen. Wir hatten ganz andere Pläne und Träume, als so eine post-demokratische Gesellschaft wie heute zu schaffen.
Wir wollten eine freie Marktwirtschaft im Sinne von Mises und Hayek - wie ich immer sagte, Marktwirtschaft ohne Adjektiven - und wir wollten eine klassische parlamentarische Demokratie mit ideologisch klar definierten politischen Parteien. Jedenfalls nicht die heutigen post-demokratischen EU-Arrangements.[3] Längst ist es schon evident, dass unser Traum von 1989 sehr weit von der heutigen Realität entfernt ist. Wir leben in einer politisch korrekten, zunehmend mono-ideologischen Welt der liberalen Demokratie, in der die Freiheit nicht an erster Stelle steht, was vorherbestimmend für fast alles ist.
Was ist geschehen?
Über alle diese Themen habe ich in den letzten Jahren mehrmals gesprochen und geschrieben. Jetzt gehe ich weiter – horizontal und vertikal. Jetzt muss man nicht nur über Europa, sondern über die ganze westliche Welt, über den ganzen Westen, sprechen. Und nicht nur über das demokratische Defizit der EU, über die leere Vereinheitlichung und die anschließende De-Demokratisierung Europas, sondern auch über eine fundamentale Neugestaltung der westlichen Gesellschaft im Sinne des Progressivismus, Environmentalismus, Genderismus, Multikulturalismus und anderer heutigen ideologischen Ambitionen. Das zu bremsen, ist die wichtigste Herausforderung der Gegenwart. Ich vermute, dass gerade deshalb manche von uns heute da sind.
Am Anfang dieses Jahres habe ich zu diesen Themen ein kleines Buch mit meinen neuesten Texten und Reden in englischer Sprache mit dem Titel „Brave New West: Is It Avoidable?“ zusammengestellt. Dieses Buch ist hier zur Verfügung. Selbstverständlich bezieht sich der Titel auf das berühmte Buch „Brave New World“ von Aldous Huxley. Zu Huxleys Zeiten sah es noch wie eine Dystopie aus, wie eine radikale politische Science-Fiction; heute sind wir viel näher. In mancher Hinsicht sind wir schon da.
In meinem Vorwort zu diesem Buch steht: „Die Überzeugung, dass wir uns dem „Brave New West“ nähern, ist der Kern meiner Interpretation dessen, was in diesen Tagen in Europa und Nordamerika passiert.“
Was wir jetzt im Westen erleben, ist eine neue politische und soziale Realität, die – besonders in Deutschland – eine Verwirklichung der Ideologie der sechziger Jahre und der damit verbundenen Denkarten und Weltanschauungen darstellt. Etwas, was z.B. der britische Autor Douglas Murray als „einen Krieg gegen die Wurzeln der westlichen Tradition“ vor ein paar Monaten in der Zeitschrift Die Weltwoche diskutierte.
Wir erleben einen brutalen Angriff nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und auf die Zukunft der westlichen Gesellschaft. Wir erleben die Arroganz und das Elitismus der Politiker, Bürokraten, Intellektuellen und von Technokraten, die sich bemühen, unsere Gesellschaft, und damit uns alle, zu beherrschen. Wir brauchen das, was der große spanische Philosoph Ortega y Gasset vor fast hundert Jahren den Aufstand der Massen nannte.
Die Eliten, die selbsternannten Eigentümer der heutigen Welt, spielen eine sehr gefährliche Karte. Der englische, im Januar verstorbene Journalist und Historiker Paul Johnson hat es in seinem Buch „Intellectuals“ (1988) überzeugend gezeigt.[4]
Den Feind zu identifizieren
Diejenigen, die nach Anif kommen, wissen das. Sie haben, so wie ich, ein großes Problem, den Feind klar und verständlich zu identifizieren. Die existierende Unklarheit und Undeutlichkeit macht unsere Analyse und unsere Kritik kompliziert. Die Progressivisten und Globalisten haben in ihren Köpfen keine kohärente Doktrin. Der Feind bleibt zerstreut. Wir kämpfen wie im Nebel.
Kommunismus war in dieser Hinsicht ein einfacher Feind. Jetzt fehlt ein klarer Name, ein alles verratender Slogan. Es gibt keinen Autor dieser Ideologie, der dies alles im Ganzen verkörpert. George Soros, Bill Gates, Klaus Schwab, Greta Thunberg, etc., sind nicht vergleichbar mit Karl Marx oder Lenin.
Die heutigen Ideologen haben leider ganz andere, viel mächtigere Methoden der Kommunikation mit der Öffentlichkeit zur Verfügung. Und, was eine wichtige Rolle spielt, die fundamentale Basis der heutigen Gesellschaft ist nicht so gesund wie in der Vergangenheit, was mit der Struktur der Wirtschaft verbunden ist. Damals mussten die Menschen arbeiten, jetzt können so viele nur als „scribes“ (in der Terminologie des originellen amerikanischen Denkers Eric Hoffer[5]), leben.
Der Hauptfeind ist bestimmt nicht mehr der kleine Bruder des Kommunismus namens „Sozialdemokratismus“. Der konservative amerikanische Volkswirt Murray Rothbard konnte vor drei Jahrzehnten sagen: unser Feind ist „social democracy in all its guises and however they label themselves“. Er sah die Grundlage des sozialdemokratischen Denkens schon damals im Progressivismus und im Mythos des permanenten Fortschritts. Das alles bleibt, etwas Neues ist aber hinzugekommen.
Ein Kandidat des Hauptfeindes bietet sich an. Heute sehe ich die Grünen, „in all their guises“, in allen ihren Deckmänteln, als Hauptgefahr. Sie diktieren die deutsche und europäische Politik. Green Deal ist ihr letztes Meisterstück. Diese Ideologie ist schon in den sechziger Jahren entstanden, besonders im Zusammenhang mit dem Club of Rome, aber erst in den letzten Jahrzehnten haben die Grünen völlig gewonnen.[6]
Auch die Grünen sind aber nur ein Teil der heutigen Welt. In der Gegenwart sollte man auch über Genderismus, Transnationalismus, Multikulturalismus, Human-Rightismus und die mit ihm verbundene Apotheose von neuen positiven Rechten sprechen. Sie alle sind militante Ideologien. Für alle diese Ideologien sollte eine ganze Tagung abgehalten werden. Ich werde hier jetzt nicht versuchen, diese Doktrinen zu glossieren. Wir brauchen ihre grundlegende Analyse.
Diese Doktrinen gehen Hand in Hand, manchmal zusammen, manchmal gegenseitig, aber parallel und gleichzeitig, was einen wichtigen synergischen Effekt hat, der die Dekonstruierung der heutigen Welt mit sich bringt. Sie sind „gemeinsam“ gegen die heutige Welt.
Warum ist es so?
Warum ist es so? Was haben wir schlecht gemacht? Warum haben wir das Aufblühen dieser Doktrinen erlaubt? Warum kann die heutige weitgehende gesellschaftliche Metamorphose geschehen? Warum gerade jetzt? Dazu nur ein paar vorläufige („preliminary“) Thesen.
Ich bin überzeugt, dass das alles nicht von außen gekommen ist. Es handelt sich nicht um einen Ideenimport von anderen Gesellschaften oder sogar Zivilisationen. Es wurde „hausgemacht“. Hier im Westen. Wie z. B. der Kommunismus. Deshalb darf Douglas Murray über einen „Krieg gegen uns selbst“ sprechen.[7]
Mein ganzes Leben habe ich in einer Atmosphäre verbracht, wo es so war. In der ersten Hälfte meines Lebens war ich als „Chicago boy“, als Exponent von Milton Friedman und anti-marxistischem Denken kritisiert, in der zweiten Hälfte, besonders am Ende, wurde ich von einigen Menschen als Putin-Agent bezeichnet. Im ersten Fall war es korrekt, in dem zweiten ist es nur politisch korrekt, das heißt, falsch.
Ich bin überzeugt, dass die heutige Wende von innen kommt. Warum ist es so? Was haben wir vergessen oder falsch gemacht? Warum haben wir es ermöglicht? Warum waren wir so leichtsinnig und unvernünftig? Warum haben wir uns gewiegt lassen?
Diese Fragen kann ich nicht in kurzen, einfachen, unmissverständlichen und überzeugenden Sätzen beantworten. Zu den möglichen Aspekten der Antworten gehören die folgenden:
1. Die Menschen im Westen sind nach der langen Ära der Ruhe und Prosperität im Prinzip zufrieden und wollen sich deren Ende weder vorstellen noch zulassen. Sie glauben, dass diese Ära – nur mit kleinen, kurzfristigen und vorübergehenden Schwankungen – permanent dauern wird. Die Zerbrechlichkeit der außerordentlichen Ära der letzten siebzig Jahre ist nicht wahrgenommen worden. Ihre wirklichen Gründe sind nicht verstanden und der Glaube an einen permanenten „march upward“ ist fast unzerstörbar.
2. Viele Menschen denken, dass alles printipiell Negative nur im Kommunismus - und ähnlichen totalitären Systemen - zu finden ist. Das relativ schnelle und einfache Ende dieses tragischen Systems hat sie davon überzeugt, dass dieses Ereignis auch das Ende der Ideologien und der sozialen Erschütterungen mit sich bringen wird. Der Fall des Kommunismus war relativ ruhig und ohne Bürgerkrieg, was zu vielen Missinterpretationen der postkommunistischen Ära führte. Fukuyama war in dieser Hinsicht ein falscher Prophet.
3. Die Menschen glauben an die Permanenz der Demokratie und an ihre ausschließlich positiven Folgen. Sie glauben, dass die Demokratie ein Automat ist, der von selbst funktioniert. Wie wir jetzt sehen, ist es leider nicht so. In seiner Inaugurationsrede als Gouverneur von Kalifornien im Januar 1967 machte Ronald Reagan seine berühmte Aussage: "Die Freiheit ist eine zerbrechliche Sache, und sie ist nie mehr als eine Generation vom Aussterben entfernt. Sie muss von jeder Generation immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden". Diese Wahrheit und Weisheit wollen die heutigen Generationen nicht hören.
Die Demokratie wird heute fast von niemandem geschützt und behütet. Ganz im Gegenteil. Wir sehen, dass die Demokratie durch die Schwächung der politischen Parteien ausgeleert wurde. Die NGOs, die mächtigen interest groups, sind heute stärker als die politischen Parteien und verlangen Ergebnisse direkt, das heißt ohne die Langsamkeit und Vorsichtigkeit der Demokratie.
Wie ich schon sagte, habe ich nach dem Fall des Kommunismus den Markt (oder die Marktwirtschaft) ohne Adjektiven verteidigt.[8] Dasselbe gilt für die Demokratie. Nicht nur Volksdemokratie, die wir im Kommunismus erlebten, sondern auch die heutige liberale Demokratie ist alles anderes als die ursprüngliche Demokratie. Die Förderung der so genannten liberalen Demokratie in den letzten Jahrzehnten in Amerika und Europa bedeutet die Liquidierung des ursprünglichen Inhalts des Wortes Demokratie.
Die verherrlichte liberale Demokratie ist nur eine Variante der Post-Demokratie. Sie ist ein Versuch, die Wahrheit und die Gerechtigkeit unter dem Banner der Idee der universalen Menschenrechte zu definieren. Das führt zum Liberalismus ohne Demokratie.
4. Die Menschen sind der Meinung, dass die De-Politisierung der Gesellschaft eine offene Tür zur Demokratie darstellt, was völlig falsch ist.
Nach dem Fall des Kommunismus war zu Hause mein ideologischer Hauptgegner Václav Havel, was die Menschen im Westen nicht verstehen. Im Kampf gegen den Kommunismus standen wir auf der gleichen Seite, aber im Kampf um die neue Gesellschaft, waren wir in Opposition. Er wollte eine non-politische Politik, d.h. die Absenz der politischen Parteien. Er wollte in einer Welt der NGOs leben. Das war für ihn die richtige und hoffnungsvolle Zukunft. Sein Slogan in den ersten Parlamentswahlen nach dem Fall des Kommunismus – „die Parteien sind für die Parteigenossen, das Bürgerforum ist für alle“ – verrät alles.
Das war für mich – nach einem halben Jahrhundert der kommunistischen Ära, als authentische Politik nicht existieren konnte – eine radikale Förderung der De-Politisierung der Gesellschaft. Ich wusste schon damals, dass die so beliebte und geschätzte De-Politisierung zu nichts anderem als zur De-Demokratisierung führt.[9]
5. Die Menschen haben die Bedeutung der Freiheit und des freien Denkens vergessen. Es gibt Statistiken, die zeigen, dass die heutigen Politiker das Wort Freiheit nur selten benützen. Besonders die EU-Politiker. Sie wissen warum. Im Wortschatz der heutigen Generationen findet man das Wort Freiheit fast nicht. Wir, die in der kommunistischen Ära jeden Satz von Mises, Hayek, Friedman und vielen anderen für eine unantastbare Weisheit gehalten haben, können es nicht verstehen.
* * *
Ich habe bestimmt vieles vergessen anzuführen, ich bin mir aber sicher, dass die oben genannten Gründe unserer gewissen Naivität und unseres optimistischen Idealismus eine wichtige Rolle beim Entstehen der heutigen Situation gespielt haben.
Zu den wichtigen Ursachen der heutigen Situation gehört unsere Zufriedenheit mit der heutigen Welt und ihrer Prosperität. Das Niveau der wirklichen Unzufriedenheit oder des authentischen Widerstands ist relativ klein. Es gibt viel zu verlieren und nur eine kleine Minderheit ist bereit, es zu riskieren.
Sehen die Menschen die Gefahr der heutigen Situation? Vor ein paar Wochen habe ich das Buch „Die Welt von Gestern“ von Stefan Zweig, der ein paar Kilometer von hier, am Kapuzinerberg in Salzburg, lange Zeit lebte, wieder gelesen. Am Ende seines Lebens hat er gefragt, ob wir die ganze Zeit geschlafen haben, oder nur nicht genug Aufmerksamkeit der Entwicklung der Situation gewidmet haben. Er gab zu: „Wir hatten die Gefahr nicht gesehen.“
Ähnlich stellt uns Thilo Sarrazin – in seinem jüngsten Buch „Die Vernunft und ihre Feinde“ – eine störende Frage: „Woher kommt ihre Ruhe?“ Wir, die nach Anif kommen, sind nicht in Ruhe, aber dieser Saal ist zu klein. Die allgemeine Ruhe kommt von dem Glauben an die Vernunft der Politiker, Journalisten, Akademiker und anderen Wahrheitsbesitzer, die prätendieren in den langfristigen Interessen der Menschheit zu denken und nur Gutes zu tun. Die Menschen glauben an die Stärke unserer heutigen Demokratie. Diesen Glauben teile ich nicht.
Ich sehe, dass wir verlieren. Die letzte Ausgabe des deutschen Magazins CATO (Nr. 1, Januar 2023) enthält auf der ersten Seite einen Aufsatz mit dem Titel „Fürchtet euch nicht“. Chefredakteur Ingo Langner kritisiert „die Politiker und ihre medialen Wasserträger“, zitiert Bertolt Brecht und sein Gedicht „An die Nachgeborenen“, das im Jahr 1939 veröffentlicht worden war. Man hat das Gefühl, dass diese Verse „recht gut auch die Lage im heutigen Deutschland beschreiben“. Er setzt fort: „Wir leben in einem Land, in dem die „Cancel Culture“ längst zur offiziellen Regierungspolitik geworden ist und in dem „der Kampf gegen rechts“ die Meinungsfreiheit bedroht. Er fragt, „was hilft dagegen?“ Und bietet den Appell vom Lukas Evangelium an: „Fürchtet euch nicht“.
Können wir noch den Abschied von gestern verhindern? Ja, aber nur mit enormen Aktivitäten, die für uns nicht gratis, ohne Kosten, sein werden. „Das würde eine radikale Änderung unseres Denkens und politischen Verhaltens erfordern. Wir müssen zur Freiheit zurückkehren, zu freien Märkten, zur Demokratie - weg von der Postdemokratie -, zu den Ideen des klassischen Liberalismus, zu Mises, Hayek und Friedman, zur Denkweise, die in den Ländern Mittel- und Osteuropas nach dem Fall des Kommunismus herrschte. Das würde die Ablehnung sowohl des roten als auch des grünen Sozialismus erfordern, die Wiederherstellung eines neuen Gleichgewichts zwischen dem freien Individuum und dem alles beherrschenden und immer weiter expandierenden Staat, die Beendigung der umfassenden staatlichen Kontrolle der Wirtschaft, die Rückkehr zu normaler Politik und ideologischen Auseinandersetzungen, anstelle von leeren und oberflächlichen TV-Talkshows.“[10]
Ich sehe keine andere Möglichkeit als der Rückkehr zur ideologischen Politik, zu einem funktionierenden Parteisystem, zu den in der Vergangenheit existierenden Mechanismen des parlamentarischen Systems. Sarrazin sagte: „wir müssen wieder wie Sisyphos die Inseln der Rationalität schaffen“. Wir brauchen aber nicht nur Rationalität. Wir brauchen Normalität, weil sie das Fundament des Lebens darstellt. Das wäre aber eine ganz andere Debatte.
Václav Klaus, Neues Collegium, Hotel Schloßwirt zu Anif, Anif, Österreich, 15. Oktober 2023 (ursprüngliche Version vom 9. 3. 2023)
[1] Heute habe ich Angst, dass ein neuer Eiserner Vorhang 1000 Kilometer weiter östlich als der vorherige aufgebaut wird.
[2] Ich muss leider gestehen, dass ich in dieser Hinsicht das Wort „wir“ falsch benütze. Für die Generationen meiner Enkelkinder, die schon ganz anders sind, kann ich nicht sprechen.
[3] Ich hatte damals Schwierigkeiten mit dem Slogan „ohne Adjektiven“. Robert Nef, einer der letzten klassischen schweizer Liberalen, schrieb Anfang Februar in der Zeitschrift Zeit-Fragen sehr treffend über „die Relativisierung“ durch Adjektiven.
[4] Der deutsche Autor Thorsten Hinz sprach vor ein paar Monaten in Junge Freiheit über den „Widerspruchsgeist der Intellektuellen“. Sie destabilisieren die Welt. Sie präferieren Moral statt Werte und Chaos statt rationaler politischer Strategie.
[5] „The True Believer: Thoughts on the Nature of Mass Movements“, Harper & Brothers, 1951.
[6] Thomas Fasbender (in der Zeitschrift CATO) sagte, dass die Grünen die erfolgreichste deutsche Partei der vergangenen vier Jahrzehnten ist. Antje Hermenau sagte im Januar dieses Jahres in Junge Freheit, dass die Grünen „eine Partei mit vielen Gesichtern ist“ und dass sie „System und Systemkritik in einer Partei vereinen“. Ich füge hinzu, dass die Grünen heute in allen Parteien gut repräsentiert sind. Heute kämpfen fast alle mainstream politischen Parteien für den ökologisch-moralischen Staatskapitalismus. Über die Grünen, den Environmentalismus und den Wahnsinn der Doktrin der globalen Erwärmung habe ich vor 15 Jahren ein Buch mit dem Titel „Blauer Planet in grünen Fesseln“ geschrieben, das in 18 Sprachen veröffentlicht wurde. Ich kann fast nichts Neues darüber hinaus sagen.
[7] Wir haben in unserem Institut ein Buch mit dem Titel „Die Selbsdestruktion des Westens“ zur Ausgabe gerade vorbereitet.
[8] Die Deutschen und Österreicher waren enttäuscht. Sie haben an das Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ blind geglaubt.
[9] Niemand hat die Kritik der De-Politisierung Europas so klar und überzeugend formuliert wie der gegenwärtige französische Philosoph Pierre Manent. Wir alle sollten ihn lesen. Er spricht über „die leere Welt ohne Nationen und ohne Religion“. Pierre Manent, Democracy without Nations? The Fate of Self-Government in Europe, ISI Books, 2013.
[10] Vorwort zu meinem Buch „Brave New West“, S. 9, Václav Klaus Institut, Prag, 2023.
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