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Deutsche Seiten, 17. 6. 2022
Nach sieben Jahren war ich kürzlich wieder einmal in Istanbul. Dabei kam mir die Songzeile von Bob Dylan in den Sinn: «The times they are a-changin’»: Die Welt war damals, im April 2015, eine andere. Sie befand sich noch ganz am Anfang einer neuen Welle der Massenmigration, die Europa und die Atmosphäre in der Europäischen Union radikal verändert hat. Als Transitland wurde die Türkei ungewollt zu einem wichtigen Teil davon. Diese Krise warf ernste Fragen auf über das Engagement der EU für eine Welt ohne Grenzen sowie über die Bedeutung des Multikulturalismus und des Nationalstaates.
Es war vor dem Brexit und seinem Angriff auf die a priori postulierten unbestreitbaren Vorteile einer «immer engeren Union» politisch und wirtschaftlich heterogener Länder. Es war vor Trump und seinem Angriff auf die progressivistische Ideologie in den Vereinigten Staaten und anderswo. Es war vor Covid und der Art und Weise, wie es die unverdiente und unhaltbare Leichtigkeit des Lebens (in Milan Kunderas Worten «die Leichtigkeit des Seins») im modernen Zeitalter entlarvte. Um genau zu sein, wurde die grundlegende Veränderung nicht durch Covid selbst verursacht, sondern durch das, was ich «Covidismus» nenne. Mit diesem Begriff bezeichne ich die Reaktion von Politikern, politischen Aktivisten und Bürokraten in internationalen Organisationen auf die Sars-CoV-2-Pandemie.
Als ich vor sieben Jahren letztmals in der Türkei war und auf dem Marmara-Forum sprach, sagte ich, dass «wir mit der Destabilisierung der Ukraine konfrontiert sind». Schon damals hatte ich das Gefühl, dass «wir durch die Ukraine-Krise gefährdet sind». Ich war überzeugt, dass «die Krise hausgemacht ist und durch das Versagen der Ukraine bei der erfolgreichen Umsetzung der notwendigen Postkommunistischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformation verursacht wurde». Ich sagte auch, dass «die innenpolitischen Probleme der Ukraine dazu missbraucht wurden, eine neue Welle der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland auszulösen». Das war im April 2015. Wir sollten nicht so tun, als hätten die Probleme dort erst im Februar 2022 begonnen.
Es war angemessen, im April 2015 den Begriff «Konfrontation» zu verwenden. Jetzt ist es leider notwendig, von «Krieg» zu sprechen. Es ist ein tragischer und zerstörerischer Krieg. Er kostet Zehntausenden von Menschen das Leben. Er verursacht enorme materielle und finanzielle Kosten. Er macht die globalen Vereinbarungen der Nachkriegszeit zunichte. Er verändert die Atmosphäre in der ganzen Welt. Der heutige Aggressor ist Russland, daran besteht kein Zweifel.
Doch das ist noch nicht alles. Der fruchtbare Boden für einen tragischen Zusammenstoss ist seit langem im Entstehen begriffen, und der Rest der Welt hat in vielerlei Hinsicht daran mitgewirkt. Vor allem in unserem Teil der Welt ist es noch zu früh, um streng analytisch, ohne Emotionen und apriorische Annahmen darüber zu diskutieren.
Die Lösung wird nicht nur von den beiden kämpfenden Ländern kommen. Es ist die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, zur Beendigung des Krieges beizutragen, sich aktiv an der Vorbereitung sehr schwieriger Verhandlungen zu beteiligen und dabei zu helfen, zumindest die Umrisse einer machbaren Lösung zu entwerfen. Eine solche Lösung kann nicht darauf beruhen, den Krieg bis ins Unendliche zu verlängern oder bis zur völligen Zerstörung Russlands oder der Ukraine. Ich habe weder den Ehrgeiz noch die politische Position, den Verhandlungsrahmen und die grundlegenden Aspekte eines Abkommens vorzuschlagen, das eine Lösung herbeiführen könnte. Aber ich bin davon überzeugt, dass die ernsthaften und sinnvollen Verhandlungen jetzt beginnen müssen. Gestern war es schon zu spät. Eine Lösung für diesen tragischen und entsetzlichen Krieg ist eine Voraussetzung für die Lösung anderer wichtiger globaler und regionaler Fragen.
Wir in der Tschechischen Republik und in ganz Mitteleuropa sind mit einer galoppierenden Inflation (zum Glück nicht so hoch wie in der Türkei), mit riesigen Haushaltsdefiziten und wachsender Verschuldung, mit zusammenbrechenden Energielieferungen, mit sinkendem Lebensstandard und mit der düsteren Aussicht auf eine bevorstehende Rezession konfrontiert.
Zu unserem grossen Bedauern können wir von den Regierungen keine schnellen und angemessenen politischen Antworten erwarten. Das zu sagen, ist kein leerer Pessimismus meinerseits. Es ist die traurige Schlussfolgerung eines alten, nicht unbedingt klugen, aber immer noch analytisch denkenden Mannes.
Václav Klaus, Weltwoche Nr. 24, 16. Juni 2022
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