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Václav Klaus: Die Erwartungen im Moment des Falls des Kommunismus und die heutige Realität

Deutsche Seiten, 4. 10. 2019

Vielen Dank für die Einladung. In München habe ich schon lange Zeit nicht geredet. Wenn ich mich nicht irre, habe ich zum letzten Mal in Ifo Institut zum Thema Euro eine Rede gehalten. Das war ein einfaches Thema. Heute ist es schwieriger.

Vielen Dank für die Einladung zu Ihrem heutigen festlichen Treffen, das im Moment des 29. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung stattfindet. Die deutsche Wiedervereinigung ist ohne Zweifel ein Grund zum Feiern. Ich hoffe, dass heute in Deutschland gefeiert wird.

Dieses historische Ereignis wurde mit dem Fall des Kommunismus direkt verbunden. Auch der Fall des Kommunismus ist ein Grund zum Feiern. Wir - in der Tschechischen Republik - werden uns in ein paar Wochen an den 30. Jahrestag unserer Samtrevolution erinnern. Hier aber entsteht die Frage.  Als ich das Wort feiern in meinem Manuskript vor ein paar Tagen geschrieben habe, habe ich mich sofort gefragt: werden wir wirklich alle feiern oder wie viele von uns werden feiern? Der Unterschied des Lebens damals und jetzt ist ohne Zweifel enorm, aber nicht alle unsere Erwartungen wurden erfüllt.

Die Interpretation der letzten 30 Jahre ist bei uns so kontrovers und die Spaltung unserer Gesellschaft so tief, dass ich Angst habe, dass manche Bürger der Tschechischen Republik nicht feiern werden. Einige werden protestieren. Dazu möchte ich etwas sagen. Das motiviert mich ein paar Bemerkungen zu machen zu der Entwicklung der letzten 30 Jahre im Zentral-und Osteuropa, auch in Deutschland, und besonders in Ostdeutschland.

Im Sommer dieses Jahres habe ich zu diesem Thema ein kleines Buch mit dem Titel “Dreißig Jahre des Weges zur Freiheit. Aber auch zurück” verfasst. Diese Überschrift des Buches stellt die Substanz meines Denkens zu diesem Thema dar. In meiner heutigen Ansprache werde ich mich bemühen, diese Position kurz zu erläutern. Man muss besonders klar sagen: die Menschen bedauern nicht den Fall des Kommunismus, sie sind mit der heutigen Situation nicht zufrieden.

Die Samtrevolution in Prag und der Fall der Mauer in Berlin haben wirkliche historische Wende verursacht. Man spricht sehr oft über den Sieg über den Kommunismus (oder über die Niederlage des Kommunismus), ich bin aber nicht sicher, ob diese Begriffe korrekt und treffend sind. Der Kommunismus war zu diesem Zeitpunkt bereits schwach, erschöpft, müde und angebrochen. Er hatte nicht mehr die Stärke sich zu wehren (und zu verteidigen). Was wir damals erlebt haben, war “lediglich“ der Fall des Kommunismus oder vielleicht das Auflösen des Kommunismus.

In unseren Ländern gibt es Menschen, die diese Interpretation nicht vertreten. Sie wollen den Ruf haben, die Sieger über den Kommunismus zu sein. So sehe ich es nicht. Ich glaube, dass meine Interpretation korrekt ist, weil sie von der Realität bestätigt wurde. Sonst kann man die Passivität der damaligen kommunistischen Regierungen, der Sicherheits-und Armeekräften und der Parteibehörden nicht erklären.

Damals wollten wir nichts anderes als Freiheit, Demokratie, freie Marktwirtschaft, nationale Souveränität. Wir wollten das, was wir in der kommunistischen Ära nicht hatten. Man sollte aber auch explizit benennen, was wir nicht wollten.

Wir wollten keinen “Sozialismus mit menschlichem Gesicht” (das war für uns die falsche Ideologie des Jahres 1968). Wir wollten keine Konvergenz von Kommunismus und Kapitalismus. Wir wollten keinen Dritten Weg. Ich hatte sogar Schwierigkeiten mit dem deutschen Konzept “soziale Marktwirtschaft”, das war für mich eine Version des dritten Weges. Wir wollten Kapitalismus. Wir haben die damalige westeuropäische und amerikanische Gesellschaft fleißig studiert und hatten das Gefühl, dass wir diese Gesellschaften gut verstehen.

Wir haben uns geirrt. Die Realität der westlichen Gesellschaft von damals war mit den Informationen aus den Lehrbüchern nicht identisch. Die wichtigen Veränderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben wir nicht genügend begriffen. Zu diesen Entwicklungen gehörten neomarxistische Tendenzen der Frankfurter Schule, die Konsequenzen der Barrikaden des Jahres 1968, die wachsenden zentralistischen Ambitionen des europäischen Integrationsprozesses, die Geburt des aggressiven Feminismus,  die Tiefe der grünen Revolution, die mit den Ideen von Club of Rome (und Limits to Growth) am Anfang der 70. Jahren begann.

Der Strukturwandel der westlichen Gesellschaft war größer als wir im Moment des Falls des Kommunismus uns vorstellen konnten. Die daraus entstehende schnelle politische und gesellschaftliche Entwicklung im Westen nach dem Fall des Kommunismus konnten wir nicht vorausahnen. Die heutige Ära des Multikulturalismus, des Entvironmentalismus, des Genderismus und Feminismus und des Transnationalismus haben wir im November 1989 leider nicht erwartet. Die Verlogenheit und die Falschheit der heutigen politischen Korrektheit auch nicht.

Die erste Phase unserer Entwicklung nach dem Fall des Kommunismus war bei uns ohne Zweifel ein riesiger Schritt vorwärts und ein großer Erfolg. Die radikale Liberalisierung, Deregulierung, Entstaatlichung und Privatisierung der Wirtschaft und der ganzen Gesellschaft führten zum schnellen Entstehen der pluralistischen parlamentarischen Demokratie und der funktionierenden Marktwirtschaft. Es bestätigte die Richtigkeit unserer Transformationsstrategie.

Damit ist es nicht zu Ende. Eine Sache war die Transformation, die Ära des Systemwechsels, andere Sache war die “normale” Posttranformationsentwicklung. Zu der zweiten Etappe  habe ich mehrere kritische Bemerkungen. Der Transformationselan und die anfängliche Euphorie gingen frühzeitig verloren. Die gewöhnlichen Probleme der Parteipolitik sind ans Licht gekommen, die Einheit der Menschen verschwand, der “Torzug” ist lange weg. Der radikale Ideologiewechsel war nicht endgültig und nicht für die Ewigkeit. Die alten Zeiten wurden bald vergessen.

Der Eintritt in die EU war für uns keine wirkliche Hilfe und Verbesserung. Es handelte sich um “mixed blessing”. Ich bin der Meinung, dass wir damit mehr verloren als gewonnen haben. Die EU nach dem Maastricht Vertrag und besonders nach dem Lissabon Vertrag ist etwas anderes als die ursprüngliche, im Prinzip positive Form der europäischen Integration, die die produktive Zusammenarbeit in Europa nach dem zweiten Weltkrieg ermöglichte. Jetzt ist es nicht mehr so. Die positiven Effekte der EU Mitgliedschaft sind für alle Länder kleiner als die negativen.

Wir sind in Deutschland, ich bin aber nicht hierhergekommen, um zu den deutschen Themen zu sprechen. Die deutsche Entwicklung möchte ich nicht bewerten und bestimmt nicht beurteilen. Ich glaube, dass meine Position in dieser Hinsicht nicht weit entfernt von der AfD Position ist. Trotzdem möchte ich nur eine kurze Bemerkung zu der schnellen und - in meinen Augen - unvorbereiteten deutschen Vereinigung machen.

Die fundamentale Transformation der tschechischen Gesellschaft und Wirtschaft habe ich nicht nur erlebt, ich war ein aktiver Spieler in diesem Prozess. Deshalb weiß ich etwas darüber. Deshalb erlaube ich mir zu sagen, dass ich die deutsche Vereinigung, die ohne Transformation der ostdeutschen Gesellschaft gemacht wurde, für eine unglaublich kostspielige Methode der Lösung des Transformationsproblems finde. Es war und ist bis heute finanziell enorm teuer, aber die noch größeren Verluste als finanzielle waren durch die Frustration der Menschen in Ostdeutschland verursacht worden - auch sie wollten ihre historische Herausforderung selbst machen. Dieses Thema habe ich in meiner Rede an der Technischen Universität Dresden vor mehreren Jahren erörtert. Die Vereinigung war ohne Zweifel  notwendig. Ich habe aber schon in Januar 1990 befürchtet, dass die deutsche Debatte über den Wechselkurs nicht genügend durchdacht war.

Die heutige Situation in meinem Land und im ganzen Europa finde ich nicht gut. Es handelt sich nicht nur über die “Expectations-Reality Gap” (die Erwartungen-Realitätslücke). Unsere (oder vielleicht meine) Erwartungen waren nicht unsinnig hoch. Ich muss aber sehr kritisch zu der heutigen Realität, zu der heutigen europäischen Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur und Zivilisation sein.

Multikulturalismus und Förderung der Massenmigration, radikaler Klimaalarmismus, der die Wirtschaft und unser Lebensniveau untergräbt (über Gretenismus lieber nicht zu sprechen), Genderismus und Feminismus, Europäismus und Globalismus als Produkte vom Transnationalismus, und weitere modernen “Ismen” finde ich als seriöse Bedrohung der westlichen Gesellschaft.

Ich hoffe, dass die AfD einige von diesen gefährlichen Tendenzen auch sieht und dass wir in dieser Hinsicht an derselben Seite der Barrikade stehen.

Václav Klaus, Maximilianeum, Bayerischer Landtag, 3. Oktober 2019, München.

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