Hlavní strana » Deutsche Seiten » Prager Frühling im Kontext…
Deutsche Seiten, 7. 8. 2018
vielen Dank für die Einladung zu dieser Veranstaltung, vielen Dank für die Gelegenheit hier heute zu dem von Ihnen gewählten, wichtigen, nicht nur historischen Thema sprechen zu dürfen. Ich muss auch aufrichtig zugeben, dass ich noch nie in diesem Teil Österreichs war. Die Tschechen fahren meistens in die Alpen und nicht nach Niederösterreich. Es kann ein Fehler sein. Noch einmal vielen Dank für Ihre Einladung.
Ich bin sehr froh, dass die Österreicher sich an die Ereignisse des Jahres 1968 in der damaligen Tschechoslowakei erinnern. Diese Ära ist für uns keine alte, lange Zeit vergessene Geschichte. Sie ist noch heute ein Teil von uns. Für jede Einschätzung der Geschichte braucht man die richtige Perspektive, die korrekten Fakten und die Absenz der ideologischen Apriorismen und Verwirrungen. Erlauben Sie mir in diesem Sinne, mit dieser Absicht, dazu ein paar Worte zu sagen.
Ich sollte mit der Selbstkritik anfangen. Ich habe Angst, dass wir – in der heutigen Tschechischen Republik – die notwendige Perspektive und den notwendigen Abstand nicht haben. Deshalb werden wir nur das tragische Ende dieser außerordentlichen Ära in Betracht nehmen, nicht die positive, manches versprechende, durchaus optimistische Entwicklung, die vor diesem Moment verlaufen ist. Ich bin froh, dass ich in dieser Zeit schon als ein Erwachsener dabei sein konnte. Es war für uns, besonders für meine Generation, eine unikate Gelegenheit, „a window of opportunity“. Wir hatten auf einmal das Gefühl, dass auch im Kommunismus etwas hoffnungsvolles geschehen kann.
Die Ereignisse des Jahres 1968 sind nicht vom Himmel gefallen. Sie waren die logische Fortsetzung der Entwicklungen, die sich bei uns in dem ganzen Jahrzehnt der sechziger Jahre durchgesetzt haben. Alles begann bereits am Anfang dieses Jahrzehntes im Moment der ökonomischen Schwierigkeiten, im Moment der damaligen Wirtschaftskrise, die für uns alle - für die normalen Menschen als auch für die kommunistischen Eliten - eine totale Überraschung gewesen ist. In der zentralgeplanten Wirtschaft sollte per Definition keine Krise entstehen. Das haben alle unsere Lehrbücher gelehrt.
Diese unerwartete Krise hat zum Glück schon in der ersten Hälfte des Jahrzehntes eine relativ seriöse Debatte über die notwendigen, grundsätzlichen Veränderungen unseres ineffizienten Wirtschaftssystems hervorgerufen. Ich hatte Glück, dass ich dabei war. Ich war damals ein Juniorakademiker in dem Volkswirtschaftlichen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, wo diese relativ radikale ökonomische Reform vorbereitet wurde.
Die Reform wurde in der Mitte der sechziger Jahre formuliert und bereits am 1. Januar 1966 eingeführt. Ähnliche kritische Debatten – mit verschiedenen Themen – gab es in der ganzen Gesellschaft. Trotzdem war es die ökonomische Reform, die die Tür für Änderungen in allen anderen Bereichen der Gesellschaft geöffnet hatte. Es war plötzlich möglich alles zu kritisieren und es gab viel zu kritisieren. Die Kultur, besonders Film und Theater, Literatur und Medien, war sehr bald relativ scharf in der Kritik der damaligen kommunistischen Gesellschaft. Solche Kritik wurde im Verlauf der sechziger Jahre immer intensiver. Wir haben diese Entwicklung mit Begeisterung verfolgt.
Die wichtigen politischen Änderungen haben aber erst im Januar 1968 angefangen. Erst in diesem Moment haben wir zum ersten Mal den Namen Dubček gehört. Diese Abfolge der Dinge sollten wir in Betracht ziehen, sonst können wir den 21.August 1968 nicht verstehen.
Es ist zweifellos, dass für uns die sowjetische Okkupation, die das Ende dieser Entwicklungen verursachte, eine absolute Tragödie war. Für die ganze Nation, für manche von uns persönlich. Die nächsten zwanzig Jahre haben wir verloren. Ich musste meine akademische Stelle verlassen, zwanzig Jahre lang konnte ich meinen Beruf nicht ausüben. Ich konnte nicht nach Ausland fahren, ich konnte nicht an der Universität lehren und ich konnte nicht schreiben - oder doch, schreiben konnte ich, aber meine Texte wurden nicht publiziert.
Diese Situation hat uns trotzdem (und paradoxal) geholfen. Der Glaube an den Kommunismus verschwand fast in der ganzen Gesellschaft. Im November 1989 wollte niemand den Kommunismus retten oder verbessern. Die Verbesserung des Kommunismus war die Idee des Jahres 1968. Im Jahr 1989 strebte niemand bei uns nach dem „Sozialismus mit menschlichen Gesicht“. Wir wollten auch keinen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Wir wollten Kapitalismus, freie Marktwirtschaft, pluralistische parlamentarische Demokratie.
November 1989 war die Leugnung des Jahres 1968, nicht seine Verwirklichung. Das haben die Menschen im Westeuropa nicht richtig verstanden. Das wollten auch bei uns die Persönlichkeiten des Jahres 1968 nicht akzeptieren. Ich musste es unserem bekanntesten Reformator der sechziger Jahre Ota Sik im Dezember 1989 persönlich erklären. Er hat es aber akzeptiert.
Die Entwicklung in der Tschechoslowakei in den sechziger Jahren war autonom, von uns selbst konzipiert, unabhängig von den Entwicklungen im Westeuropa und Amerika. Die damaligen Ereignisse im Westeuropa – die Barrikaden in Paris und Berlin –stammten aus anderen Ideen und Ideologien, sie wurden an anderen Erlebnissen und Erfahrungen gegründet.
Was damals im Westeuropa geschah, waren nicht nur die ein paar Tage existierenden Barrikaden. Das Ganze war die westliche Version der Kulturrevolution. Das war ein langsamer Anstieg des Neomarxismus (mit Marcuse und Habermas). Das waren die ununterbrochenen Angriffe an die menschliche Vernunft, an common sense, an Autorität, an Ordnung und Traditionen. Das war der Einzug des Environmentalismus (Ökologismus) und seine Versuche uns vor die Ära der Industriellen Revolution zu bringen. Das war die unverantwortliche Ausdehnung des Human-rightismus (der Ideologie der Menschenrechte). Das war die Ideologie des Multikulturalismus. Das waren die aggressiven Attacken an das Christentum und seine Werte. Das war – als meine Verallgemeinerung aller dieser Tendenzen – die Entstehung der liberalen Ordnung ohne konservativen Grundlagen.
Im Jahr 1968 wollten wir politische und ökonomische Freiheit, im Westeuropa wollten die Demonstranten das Ende des Kapitalismus, das Ende der freien Marktwirtschaft, das Ende der bürgerlichen Ordnung, das Ende der freiwillig respektierten Traditionen und Gewohnheiten und das Ende der bürgerlichen Moral. Diese Einstellungen konnten nicht weiter voneinander entfernt sein. Wir sollten uns bemühen, diesen Unterschied den heutigen Generationen klar darzustellen.
Die Tragödie des heutigen Europas, und ich sehe die heutige Situation in Europa - ganz politisch inkorrekt - als eine Tragödie, ist für mich die direkte Konsequenz der Entwicklungen Europas (und des ganzen Westens) in den sechziger Jahren. Die heutigen, schicksalhaften, ohne Zweifel gefährlichen Tendenzen haben bereits damals begonnen. Damals ist die wichtige Wende gewesen. In der Fachliteratur spricht man manchmal sogar über „das lange Jahr 1968.“
Meine letzte Bemerkung ist mit der heutigen Migrationskrise verbunden. Zuerst muss ich mich bei den Österreichern bedanken - Österreich hat vielen tschechischen Bürgern damals wirklich geholfen. Ein Beispiel ist meine Schwester. Sie hat zwischen August und November 1968 ungefähr drei Monate irgendwo in Wien, in einem von der Stadt oder Regierung vorbereiteten Wohnheim gelebt. Seit dieser Zeit lebt sie in der Schweiz.
Trotzdem sollten wir die damalige, ohne Zweifel einmalige, einzigartige und nicht wiederholbare Situation mit der heutigen Massenmigration nicht vergleichen. Die alten Argumente kann man nicht für die heutige, organisierte, nicht einmalige, kein Ende versprechende Massenmigration benützen. Diese Debatte wollte ich hier heute aber nicht weiter führen. Das wäre ein anderes Thema und eine andere Rede sein.
50 Jahre Prager Frühling, Verein zur Dokumentation der Zeitgeschichte, Schloss Weitra, Niederösterreich, 5. August 2018
Veröffentlicht auch in Die Weltwoche, Nummer 34, 23. August 2018.
Copyright © 2010, Václav Klaus. Všechna práva vyhrazena. Bez předchozího písemného souhlasu není dovoleno další publikování, distribuce nebo tisk materiálů zveřejněných na tomto serveru.