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Deutsche Seiten, 23. 5. 2018
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung zu der heutigen Veranstaltung. Vielen Dank für das gut gewählte, noch heute relevante und leider noch nicht geschlossene Thema. Vielen Dank für die Gelegenheit in Wien wieder einmal zu sein. Und, das Wichtigste, vielen Dank für die Möglichkeit den ehemaligen slowakischen Ministerpräsidenten Vladimir Mečiar treffen zu können. Es ist nicht typisch, dass wir uns in Wien treffen, aber warum nicht. Wir treffen uns leider selten zu Hause.
Diese Einladung war für uns beide – am Anfang dieses Jahres – eine positive Information, dass die Leute auch im Ausland noch heute Interesse haben, über die friedliche und – wie die letzten 25 Jahre überzeugend bewiesen – für unsere beide Länder vorteilhafte und günstige Teilung der Tschechoslowakei zu sprechen und sogar etwas zu hören. Wir sind manchmal frustriert, dass einige Leute die außerordentlich freundschaftliche, sorgfältig und verantwortungsvoll organisierte, auf kooperativer Basis konzipierte und verwirklichte Teilung der Tschechoslowakei noch heute nicht verstehen oder, wahrscheinlich genauer, nicht verstehen wollen. Trotz allen unbestreitbaren Fakten und statistischen Daten sind diese Leute leider nicht fähig, die durchaus positiven Folgen der damaligen Teilung zu akzeptieren.
Absichtlich sagte ich freundschaftliche, sorgfältige, verantwortungsvolle, kooperative Teilung. Alle diese Adjektive sind wichtig und notwendig. Die meisten Teilungen und Spaltungen von Staaten in der Geschichte waren unfriedlich, unorganisiert, unvorbereitet und unkooperativ, und daher unausweichlich chaotisch, feindlich und gewalttätig. Sie hatten hohe materielle und finanzielle Kosten, oft auch menschliche Opfer. Es war so, weil diese Teilungen ohne die andere Seite voll respektierende Zusammenarbeit und ohne gegenseitiges Verständnis geschehen sind.
Aus der näheren Vergangenheit genügt es, sich an den Zerfall (absichtlich sage ich Zerfall, nicht Teilung) Jugoslawiens oder an das völlig unkooperativ verlaufende Ende der Sowjetunion zu erinnern. Auch die gegenwärtigen Anstrengungen Großbritanniens über den Austritt aus der Europäischen Union sind bislang völlig unkooperativ (nicht zufällig verwendet man die Worte hard oder soft Brexit). Sehr unkooperativ sind auch die gegenwärtigen Verhandlungen von Madrid mit Katalonien. In dieser Terminologie erlaube ich mir zu sagen, dass unsere Teilung außerordentlich soft gewesen ist – insbesondere im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen.
Weder damals, noch in den folgenden Jahren habe ich in der Slowakei jegliche Feindschaft gegenüber unserem Land oder meiner Person gespürt. Vielleicht hat mein Kollege Herr Mečiar ein bisschen andere Erinnerungen an die damaligen Reaktionen einiger tschechischer Medien und eines Teils der Politiker, aber die Tschechen und Slowaken fühlten weder im Verlauf der Teilung des Staates keine Feindschaft, noch fühlen sie sie heute. In dieser Hinsicht sind die Beziehungen der Tschechen und Slowaken nach der Teilung des Staates nicht schlechter als in der Vergangenheit, sondern eher besser.
Zwischen den Jahren 1992 und 2018 ist eine Lücke einer ganzen Generation. Das Gedächtnis wird unaufhaltsam schwächer, einiges ist bereits vergessen, auch die damaligen Teenager sind heute schon in ihren Vierzigern. Viele Menschen, die in den Jahren 1990 bis 1992 auf beiden Seiten politisch aktiv waren, sind heute nicht mehr unter uns.
Deshalb verstehen wir es – und jetzt, hoffe ich, spreche ich auch für Herrn Ministerpräsidenten Mečiar – als unsere Pflicht, eine faire Interpretation dessen, was damals geschah, zu erhalten. Wir müssen uns bemühen, absichtliche und gezielte Missinterpretationen der damaligen Ereignisse resolut abzulehnen. Wir dürfen nie zulassen, dass die friedliche und freundliche Trennung unseres gemeinsamen Staates für neue politische Spielchen missbraucht wird.
Heute möchte ich klar und deutlich sagen, dass ich schon damals wusste, und heute noch sicherer weiß, dass die Teilung des im Jahr 1918 entstandenen – also aus historischer Sicht nur sehr kurz existierenden – gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken ein logischer, richtiger und wichtiger, damals unausweichlicher Schritt gewesen ist. Ich gebe zu, dass ich das in den Jahrzehnten vor dem Ende des Kommunismus nicht wusste und nicht erwartete. Ich füge hinzu, dass ich das nicht nur aufgrund meiner Unaufmerksamkeit und Unwissenheit nicht wusste, sondern auch weil ich kein Slowake war. Der tschechische Blick auf diese Dinge war immer etwas anders.
Der Kommunismus hat keine seriöse Diskussionen und Überlegungen über Vor- und Nachteile unseres gemeinsamen Staates ermöglicht. Alles war verboten. Wir Tschechen hatten zu dieser Zeit nur ein Hauptziel: den Kommunismus zu beenden. Alle unsere Gefühle des Unrechts oder der Ungerechtigkeiten haben wir ausschließlich mit der kommunistischen Unfreiheit und Irrationalität verbunden.
Wir haben unterschätzt, dass die Slowakei neben dem Gefühl der kommunistischen Unfreiheit auch die nationale Unfreiheit fühlte. Wir haben den übermäßigen Zentralismus unseres Landes ausschließlich mit dem Kommunismus verbunden, die Slowaken auch mit Prag, mit dem so genannten Pragozentrismus. Wir machten für die irrationale Struktur der Wirtschaft das System der Zentralplanung verantwortlich, die Slowaken verbanden es auch mit dem bewussten (und damit durch jemanden organisierten) Ausbau der Schwer- und Rüstungsindustrie in der Slowakei. Der unterschiedliche Blickwinkel war evident, nicht zu verneinen, man kann sagen „objektiv“ bestehend.
Im Kommunismus war jeglicher freie Diskurs verboten, daher wurde selbst das Thema der staatsrechtlichen Ordnung nicht ernsthaft diskutiert (mit der Ausnahme dessen, dass die Slowaken zum Ende der 60er Jahre die Föderalisierung des bis dahin unitären Staates durchsetzten). Auf der tschechischen Seite wurden diese Themen nicht diskutiert. Auf die schnelle Entwicklung dieser Themen nach dem Fall des Kommunismus waren wir nicht genügend vorbereitet. Deshalb waren wir so überrascht von dem bekannten „Bindestrich-Krieg“, der im Januar 1990 nach der Rede von Präsidenten Havel im Föderalparlament ins Leben gerufen wurde.
Dank dieses Konflikts machten wir uns langsam der schon lange Zeit bestehenden Ursachen dieser Problemen bewusst und lernten, dieses von kurzfristigen politischen Konflikte zu trennen.
Wir begannen – auf tschechischer Seite – nicht nur die nicht geringen, aus der Vergangenheit andauernden Unterschiede beider Teile des damaligen Staates in Betracht zu ziehen, sondern auch die gewisse Künstlichkeit und Nichtselbstverständlichkeit des ursprünglichen Projektes des gemeinsamen Staates. Wir begannen die wiederholt entstehenden Krisen und Risse unseres siebzig Jahre dauernden Zusammenlebens, die an wichtigen Punkten unserer modernen Geschichte aufgetreten sind – sei es das Jahr 1939, 1968 oder 1990 – neu zu betrachten. Plötzlich war offensichtlich, dass die Slowaken in all diesen „Rissen“ eine Revision des Jahres 1918 gesehen haben, was zeigte, dass sie sich mit der Tschechoslowakei, wie sie ursprünglich konzipiert wurde, nicht vollständig identifizierten. Nichts davon war eine Erfindung des Jahres 1992 oder der Politiker des Jahres 1992, wenngleich einige das ständig behaupten.
All das haben das Ende des Kommunismus und der Fall aller damaligen Tabus geändert. Den asymmetrischen Blick der Tschechen und Slowaken verstand die slowakische Politik schnell und bald, während wir uns lange Zeit kaum damit befassten. Einige ignorierten oder bagatellisierten dieses Thema, andere begannen slowakische, oft überraschende und scharfe Aussagen, Impulse, Pläne und Absichten aggressiv zu beantworten – ausschließlich um zu Hause einfache politische Punkte zu machen (Kalvodas ODA, aber mit der Zeit immer mehr auch die Regierung von Petr Pithart).
Es ist hier und heute weder der richtige Zeitpunkt, noch der Ort, um tausende kleine oder bedeutendere Ereignisse zwischen November 1989 bis zu den Wahlen im Juni 1992 zu besprechen und zu analysieren. Es gibt auch keinen Grund, durch tausende Details die Hauptlinie der Geschichte zu verschleiern. Gerade das zu verhindern, geht es uns.
Vor den Wahlen im Juni 1992 hat die tschechische politische Repräsentanz die Teilung des Staates nicht vorbereitet. Das würde ich über die slowakischen Politiker, zumindest über einen großen Teil von ihnen, nicht so sicher sagen. Ich denke dabei nicht primär an Vladimír Mečiar, sondern eher an die damalige slowakische Regierung mit Ján Čarnogurský an der Spitze (aber auch mit dem ehemaligen Finanzminister Kováč). Auf tschechischer Seite haben die Wähler die Anhänger des Doppelhaus-Konzepts aus der Bürgerbewegung eindeutig abgelehnt. Auch in der Slowakei sind die Bratislava Intellektuelle von „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ völlig ausgebrannt und haben ihre Positionen ganz verloren. Die Karten wurden durch die Wahlen eindeutig verteilt. Die Sieger der Wahlen erhielten ein hinreichendes Mandat.
Auf der tschechischen Seite hat die ODS, die im Bemühen um ein Zusammenhalten des gemeinsamen Staates als einzige Partei der tschechischen politischen Szene auch in den slowakischen Wahlen kandidierte, dieses bereits ins Rollen geratene Problem nach ihrem Sieg in den Wahlen mehr oder weniger geerbt. In der Slowakei hat die HZDS von Vladimír Mečiar eine Schlüsselposition bekommen. Wir beide haben das Wahlergebnis respektiert, was entscheidend war. Wir empfanden es als unsere Pflicht.
Wir beide verstanden das Wahlergebnis als klare Mitteilung – die Slowakei wollte einen eigenen Staat, Tschechien würde einen gemeinsamen Staat akzeptieren, aber lehnte alle dritten Wege ab, wie das Doppelhaus-Konzept, Verschiebung einer Lösung, und die unaufhaltsame Zunahme von gefährlichen Faktoren des unorganisierten Zerfalls.
Ich habe – als föderaler Finanzminister – lange Zeit versucht, den Zerfall und besonders den chaotischen Zerfall zu bremsen. Wir beide, Herr Mečiar und ich, haben die Realität respektiert. Wir waren uns bewusst, dass zum Beispiel kein weiterer Staatshaushalt der Föderation möglich ist. Auch deshalb kamen Vladimír Mečiar und ich sehr schnell, schon bei unseren ersten Treffen nach der Wahl, zum Schluss, dass die Teilung des Staates unvermeidbar ist. Das Wahlergebnis zeigte dies völlig eindeutig. In dieser Hinsicht waren sich beide Regierungen – die tschechische und die slowakische – einig. Sie unterschieden sich voneinander und intern nur in Akzenten.
Alles Weitere war nur eine logische Folge. Entscheidend war, dass unser Verhältnis mit Vladimír Mečiar und unsere manchmal schmerzhaften und langwierigen Verhandlungen völlig korrekt waren. Über die ganzen Wochen und Monate. Ich möchte die heutige Gelegenheit nutzen und Vladimír Mečiar danken. Ohne ihn konnte der Prozess der Trennung der Tschechoslowakei nicht so gut ausgehen können, wie es der Fall gewesen ist.
Zu keinem Zeitpunkt haben wir einen Zwiespalt, einen Konflikt oder eine Nichtlösung zugelassen. Wir wussten, dass wir die andere Seite begreifen müssen. Wir wussten, dass niemand 10:0 gewinnen kann. Wir wussten, dass Zugeständnisse und Kompromisse unvermeidlich waren. Wir wussten, dass wir für diese Kompromisse nicht von Allen Applaus erhalten würden, aber wir waren sicher, dass die Kompromisse notwendig waren. Da bin ich mir auch heute sicher. Die Entwicklung der vergangenen 26 Jahre gibt uns Recht.
Václav Klaus, Diplomatische Akademie, Wien, 23. Mai, 2018.
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