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Deutsche Seiten, 22. 4. 2018
Sehr geehrter Herr Wutscher, sehr geehrter Herr Caspart, sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für Ihre Einladung und für die Gelegenheit diesen Teil des Oberbayerns wieder einmal besuchen zu dürfen. Diese wunderschöne Gegend kenne ich relativ gut, in der Stadt Freilassing war ich aber nur bei einem bekannten und sehr begabten Physiotherapeuten, Hansi Haas im Physiohaus. Sonst war ich hier noch nie. Besser als Städte kenne ich die Berge in der Umgebung. Mehrmals war ich am Loipl, Jenner und Rossfeld beim Skifahren.
In Deutschland, Bayern und Österreich habe ich relativ oft Reden gehalten (besonders nicht weit von hier in Salzburg), aber noch nie in diesem Winkel Bayerns. Vielen Dank für diese Möglichkeit. Trotzdem muss ich sagen, dass ich ein bisschen Angst hatte. Meine deutsche Sprache ist nicht genügend, deshalb war ich nicht sicher, was der Begriff „Jagsthausener Kreis“ bedeutet. Der Kreis von Jägern? Im Wörterbuch habe ich nur das Wort Jägerhaus gefunden, es muss etwas Ähnliches wie Jagsthaus sein. Ich möchte gleich hinzufügen, dass ich kein Jäger bin. Ich habe noch nie aus einer Flinte geschossen – sogar nicht während meines Militärdienstes. In der Armee habe ich zum Glück Basketball gespielt, da habe ich nur die Körbe geschossen. Aus diesem Grund weiß ich nicht, ob ich zum Eintritt in dieses Haus überhaupt berechtigt bin.
Ich weiß, dass hier heute von mir eine kritische Rede zum Thema EU erwartet wird. Ich werde Sie in dieser Hinsicht hoffentlich nicht enttäuschen, aber etwas änderte sich in der letzten Zeit. Eine solche Rede zu halten ist heute keine Heldentat mehr. Es ist inzwischen ganz normal, es ist sogar Pflicht, die EU zu kritisieren. Das machen fast schon alle. Ganz anders, es braucht eine gewisse menschliche Tapferkeit, heute die EU zu verteidigen. Es machen nicht viele. Es ist ganz logisch. Man muss außerordentlich hartköpfig und unsensibel sein, die tragischen Defekte der EU nicht zu sehen. Ich werde mich bestimmt nicht bemühen, hier eine Apologetik der EU zu präsentieren. So tapfer bin ich nicht.
Mein Unterschied zu der politisch-korrekten Kritik der EU befindet sich darin, dass ich die lange Zeit diskutierte EU-Defekte als Geburtsdefekte bezeichne, als etwas, was man mit gut gemeinten, aber in den alten Gleisen gehenden Reformen nicht ändern kann. Die Schärfe meiner Position, die ich lieber schon am Anfang avisiere, steht unter dem Einfluss meiner Lebenserfahrungen – ich wurde im Protektorat Böhmen und Mähren geboren, die Mehrheit meines Lebens habe ich in der kommunistischen Tschechoslowakei verbracht und in der Tschechischen Republik war ich die ganze Zeit in den höchsten politischen Positionen. Nicht wie ein normaler Bürger, was gefährlich sein kann.
Meine Erfahrungen sind deshalb anders als die Erfahrungen von Menschen, die hier in Freilassing, in Bayern, in Deutschland (mit der Ausnahme der DDR) leben. Diese Erfahrungen sind eng verbunden
- mit meinem Leben in Kommunismus;
- mit meiner unikalen Rolle in der radikalen politischen, ökonomischen und sozialen Transformation meines Landes nach dem Fall des Kommunismus;
- und mit den Gefühlen von jemandem, der relativ neu in der EU ist und der während der 40 Jahre des Kommunismus über die Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit und Souveränität träumte.
Am Anfang ein Paar Bemerkungen zu der ersten Phase, zu der kommunistischen Ära. Wir haben in dieser Zeit nicht nur die Unfreiheit und unsere erniedrigende Unterdrückung erlebt – das ist gut bekannt. Wir haben auch den arroganten Konstruktivismus der Gesellschaft durchgelebt, die grobe Manipulation der Menschen, die Indoktrinierung der jungen Generationen, die Ambitionen einen „neuen kommunistischen Menschen“ zu schaffen. Deshalb sind wir enttäuscht, wenn wir etwas Ähnliches in der heutigen EU sehen.
Die sechziger Jahre haben wir nicht in Paris und Berlin erlebt. Wir hatten unser Jahr 1968, das aber in eine ganz andere Richtung ging. Wir wollten Kapitalismus und traditionelle Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten – ganz im Gegenteil dazu, was die Studenten in Paris und Berlin wollten.
Über die Naivität der damaligen westeuropäischen Studenten haben wir gelächelt, aber die, damals verursachten Veränderungen der Substanz der westlichen Welt haben wir leider nicht gut eingeschätzt und wahrgenommen. Wir haben gedacht und geglaubt, dass im Westen alles beim Alten bleibt, dass im Westen der gute, alte Westen weiter existiert und existieren wird. Erst in den 90. Jahren haben wir festgestellt, dass es nicht so ist, dass es sich verändert.
Nach dem Fall des Kommunismus wollten wir in unseren Ländern einen fundamentalen Systemwechsel verwirklichen, keine Teilreformen. Wir wollten eine radikale Wende. In der Wirtschaftssphäre wollten wir die freie Marktwirtschaft, den Markt ohne Adjektive, keine soziale Marktwirtschaft. Was wir in der EU gefunden haben, war aber keine Marktwirtschaft im Sinne von Mises, Hayek, Erhard oder Eucken. Das haben wir schon am Anfang begriffen. Mit meiner Einstellung habe ich in Deutschland und Österreich viele Leute provoziert, aber dennoch habe ich im Jahr 1993 den Ludwig Erhard Preis in Bonn erhalten.
Wir wollten die klassische Parlamentsdemokratie mit ideologisch klar definierten politischen Parteien, nicht die heutige postdemokratische EU-Institutionen. Auch in dieser Hinsicht ist es in Europa anders.
Die heutige Realität in meinem Land, in Deutschland und im ganzen Europa ist für mich eine riesige Enttäuschung. Das habe ich im November 1989, im Moment des Falls des Kommunismus, nicht erwartet. Die wirkliche Freiheit, der gewünschte freie Wettbewerb der Ideen und politischen Programme, wird durch die politische Korrektheit, durch den moralischen Urteil der Gutmenschen, durch eine enorme mediale Manipulation, und durch eine Spirale des Schweigens ersetzt. Wir leben in politisch-korrekter, mehr und mehr mono-ideologischer Welt, die sich aber als non-ideologische Welt präsentiert. Der Kulturmarxismus der Frankfurter Schule, die progressivistische linke Ideologie dominiert.
Man spricht oft über einem demokratischen Defizit in der EU. Die EU-Exponenten sehen es aber nicht als eine falsche Entwicklung, in ihren Augen handelt es sich um einen erwünschten Vorteil. Es ermöglicht ihnen ihre Pläne rücksichtslos zu verwirklichen. Sie brauchen nicht den europäischen Demos, das europäische Volk im politischen Sinne. Ganz anders. Und weil das politische Volk nur in den Nationalstaaten existiert und existieren kann, sind die alten europäischen Staaten, die Vaterländer, das Hauptziel des heutigen progressivistischen Angriffes. Die EU-Exponenten bemühen sich, die Nationalstaaten maximal zu schwächen. Dazu gehört die radikale Ablehnung der Geschichte.
Zu Hause bin ich in den Medien immer wieder gefragt worden, warum ich in der letzten Zeit in Deutschland so oft rede. Meine Antwort ist: Deutschland ist – aus meiner Sicht – das heutige Schlachtfeld Europas. Es ist hier in Deutschland und nicht in den anderen Ländern Europas, wo das heutige europäische Dilemma, der heutige Konflikt über die Zukunft Europas gelöst wird – oder auch nicht. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob die Deutschen Ihre heutige Rolle und Verantwortung in aller Breite, Tiefe und Ernsthaftigkeit sehen. Ob sie fähig sind, die enorme Manipulation und Indoktrinierung, die die heutigen europäischen politischen Eliten vor unseren Augen durchführen, zu durchschauen.
Man kann heute über einen Krieg in Europa sprechen. Die Schlachtformationen, die auf beiden Seiten auftreten, sind uns allen gut bekannt: auf der einen Seite, und das ist meine Seite, steht Freiheit, Demokratie, traditionelle Familie und das gewöhnliche, in der Geschichte bewährte menschliche Benehmen, Souveränität der europäischen Nationalstaaten, Patriotismus, Auslandsreisen und Auslandsaufenthalte statt Migration. Diese Seite ist relativ still, friedlich, höflich und zur Diskussion bereit.
Auf der anderen steht politische Korrektheit, Multikulturalismus und Humanrightismus, Feminismus, Genderismus und die Aggressivität des Homosexualismus, Massenmigration, Frau Merkel, Herrn Macron und Juncker, unfreiwillige und nicht spontane Unifizierung, Zentralisierung, Harmonisierung und Standardisierung Europas, Kontinentalismus, und der Kulturmarxismus der Frankfurter Schule. Diese Seite ist arrogant, aggressiv und monologisch. Leider hat sie extrem/sehr laute Sprachrohre und stärkere Artillerie zur Verfügung.
Diese stilisierte und vereinfachte Beschreibung ist von mir keine absichtliche Karikatur der heutigen europäischen Situation. So übersichtlich sind in meinen Augen die Karten in Europa verteilt. Wir sollten nie zulassen, dass diese Klarheit und Übersichtlichkeit vernebelt werden.
In den letzten Jahren ist in Europa ein neues und viel wichtigeres und gefährlicheres Thema als Euro, Griechenland, Staatsverschuldungen, etc. aufgetaucht: wir sind Zeugen der durchgehenden Umgestaltung der europäischen Gesellschaft, der allmählichen Liquidierung der europäischen Kultur, Traditionen und Werte, und der dafür als Instrument benutzten Massenmigration.
Zu diesem Thema habe ich zusammen mit meinem Kollegen Jiří Weigl ein kleines Buch – mit dem Titel „Völkerwanderung“[1] – zusammengefasst. Dieses kleine, kurze und ursprünglich auf Tschechisch geschriebene Buch ist in deutscher Sprache erhältlich. Das Buch existiert heute auch auf Englisch, Französisch, Schwedisch, Russisch, Flämisch und Ungarisch.
Die Hauptbotschaft des Buches ist klar, direkt und unmittelbar: die heutige Massenmigration, und ihre weitgehenden negativen Konsequenzen für die Zukunft der europäischen Gesellschaft, haben nicht die Migranten, sondern die europäischen Politiker – an der Spitze mit deutschen Politikern – verursacht. Gerade das muss man, besonders hier in Deutschland, laut sagen.
Die Mehrheit der europäischen und besonders deutschen Spitzenpolitiker wird es nie zugeben. Mit ihrem Glauben an die durchaus wohltuenden Effekte der unbegrenzten Verschiedenheit der Menschen für eine zusammenlebende Volksgemeinschaft und mit ihrem Glauben an die vollkommen positiven und bereichernden Einwirkungen der Migranten, ihrer Ideen, ihrer Religion, ihrer Benehmensmuster haben die europäischen Politiker die Migranten schon seit langer Zeit implizit, aber in der letzten Zeit auch explizit eingeladen. Nur deshalb sind die Migranten da.
Die EU-Politiker glauben wahrscheinlich aufrichtig an die Ideologie des Multikulturalismus, was schwer zu begreifen ist. Wollen sie wirklich aus den heutigen Migranten einen neuen europäischen Menschen, den homo bruxelarum, erschaffen? Glauben sie wirklich, dass es möglich ist?
Die europäischen Politiker stellen vor unseren Augen einen politischen Kitsch dar – auf einer Seite die plötzliche, nie vorher da gewesene, unerträgliche Tragödie der Menschen in der Dritten Welt, besonders in den Ländern des Nahen Ostens, Afrikas und Asiens, und auf der anderen ein obligatorisches Mitgefühl mit allen diesen Menschen. Dieses falsche Schema dürfen wir nicht annehmen.
Diese Debatte sollten wir nicht hinter der moralisierenden Terminologie verstecken. Das Dilemma des heutigen Europas ist nicht Mitleid, Barmherzigkeit und Solidarität auf der einen Seite und Gleichgültigkeit, Egoismus und die uralte Kleinbürgerlichkeit auf der anderen. Das heutige europäische Thema ist unsere Zukunft.
Auch diese Politiker jetzt – hoffentlich – wissen, dass die Massenmigration zu ermöglichen, ein tragischer Fehler war. Jede Gesellschaft braucht Prinzipien, Werte und Überzeugungen mit denen sie sich identifiziert. In der Ära der Massenmigration fehlt solche Identifizierung. Die Migranten haben andere Prinzipien, Werte und Überzeugungen und sie wollen sie sich behalten.
Die heutige Massenmigration habe ich schon mehrmals als Bedrohung der europäischen Zivilisation und Kultur, als Bedrohung der Freiheit und Demokratie, und nicht zuletzt als Bedrohung der europäischen Prosperität bezeichnet.
Dazu kommt die heutige Terrorismuswelle, die ohne Zweifel ein unvermeidlicher Bestandteil der Massenmigration ist. Trotzdem sollte man nicht das heutige Problem Europas auf das Thema des Terrorismus begrenzen. Ich bin überzeugt, dass die Fortsetzung der Massenmigration anderer Kulturen und Zivilisationen Europa auch ohne Terrorismus vernichten wird.
Die Europäische Union braucht nicht nur kleine Änderungen, sondern eine radikale Wende. Wir brauchen – in der tschechischen Terminologie – eine Samtrevolution. Ich bin überzeugt, dass wir die Ambitionen der europäischen Eliten (oder Pseudoeliten) resolut ablehnen müssen.
Václav Klaus, Jagsthausener Kreis, Hotel – Gasthof Moosleitner, Freilassing, 22. April 2018.
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