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Deutsche Seiten, 7. 9. 2016
Vielen Dank für die Einladung, vielen Dank für die Gelegenheit Ihre schöne und in heutiger Welt wichtige Stadt wieder einmal besuchen zu dürfen. Zu Hause wurde ich in den Medien immer wieder gefragt, warum ich in der letzten Zeit in Deutschland so oft rede. Meine Antwort ist für sie überraschend: Deutschland ist – aus meiner Sicht – das heutige Schlachtfeld Europas. Das demonstriert auch der ungewöhnliche Ort dieser Veranstaltung. Ich bin nur nicht sicher, ob die Deutschen die heutige Situation in aller Breite, Tiefe und Wichtigkeit, wie ich es sehe, es auch sehen und ob sie sich damit mit voller Aufmerksamkeit beschäftigen.
Hier in Deutschland, nicht in kleineren Ländern Europas, wird – oder wird nicht – das heutige europäische Dilemma gelöst werden. Die Schlachtformationen, die an beiden Seiten auftreten, sind bekannt: an einer Seite, und das ist meine Seite, steht Freiheit, Demokratie, Souveränität der europäischen Nationalstaaten, Patriotismus, Auslandsreisen und Auslandsaufenthalte statt Migration, Hayek und Freiburger Schule. Diese Seite ist relativ leise, friedlich, höflich und zur Diskussion immer bereit. An der anderen, und das sind sie, steht politische Korrektheit, Multikulturalismus, Massenmigration, Frau Merkel, Herren Juncker und Schulz, unfreiwillige und unspontane Unifizierung, Zentralisierung, Harmonisierung und Standardisierung Europas, Kontinentalismus und Kulturmarxismus der Frankfurter Schule. Diese Seite ist autistisch, arrogant, aggressiv und monologisch. Sie hat die gewaltigere Sprachrohre und die wirkungsvollere Artillerie zur Verfügung. So übersichtlich sind die Karten in Europa heute verteilt. Wir sollten nie zulassen, dass diese Übersichtlichkeit vernebelt wird.
Für uns, für die europäischen Demokraten, bleiben nur die Argumente. Die sind leider zur Zeit nicht einfach zu presäntieren. Die heutige Debatte in den Medien und in der Politik ist nicht seriös und nicht repräsentativ. Ich stimme völlig mit dem Titel eines Artikels in NZZ vor ungefähr zwei Wochen: Denkverbote statt Debatte. Der Autor spricht über die „Friedhofsruhe“ und über das „Moralisieren und Tabuieren“. Das freie Denken ist unterdrückt. In meiner Lebensgeschichte habe ich es schon mal erlebt. Es war in den kommunistischen Zeiten.
Zu unserem Bedauern sehen manche Europäer die Schicksalshaftigkeit und die Dringlichkeit dieses historischen Momentes leider noch nicht. Sie interpretieren die Situation in Europa anders als die Menschen, die heute Abend da sind und die der gefährliche Namen Václav Klaus nicht schreckt.
Ungefähr eine Woche nach dem britischen Referendum war ich an einer internationalen Konferenz in Griechenland. Die Teilnehmer (die nichtarbeitende Konferenzleute, mehrere von ihnen die bekannten Repräsentanten des europäischen Establishments) waren sichtbar nervös, enttäuscht, fast erschrocken. Ihr Kartenhäuschen wurde zerstört. Der Hauptorganisator der Konferenz hat in seiner Schlussrede gesagt: „die zwei Hauptfeinde Europas sind Boris Johnson und Václav Klaus“. Ich wusste nicht, dass gerade wir zwei die Komplizen in diesem angeblichen Verbrechen sind. Es ist aber nicht die schlechteste Kompanie für mich, ich bin aber schlimmer.
Man kann die heutige europäische Debatte von vielen Hinsichten und Ecken anschneiden. Einige von diesen Hinsichten sind wichtiger und aktueller als die anderen. Vieles hat sich in der letzten Ära geändert. Die traditionelle sozial-ökonomische Debatte ist passé. Die nicht so alte Debatte über die globale Erwärmung ist auch tot. Trotz der „Klimapause“ (schon 18 Jahre keine Erhöhung der globalen Temperatur) haben die Klimaalarmisten die Debatte gewonnen. Es ist ein neues Thema aufgetaucht: die durchgehende Umgestaltung der europäischen Gesellschaft, ihrer Substanz, Kultur und Werte, und die dafür benützte Massenmigration.
Hier in Berlin habe ich zu diesen Themen zum letzten Mal am Anfang Juni gesprochen. Es war anlässlich der Ausgabe meines Buches „Völkerwanderung“, das der heutigen Migrationskrise in Europa gewidmet wurde. Dieses Buch steht in der heutigen Ideenschlacht völlig an der Seite der Freiheit und nicht an der Seite des Moralismus, der Manipulation und des linken Etatismus. Das Buch wird bald auf Französisch, Italienisch, Schwedisch, Russisch, Serbisch und Flämisch herausgegeben werden. Den Inhalt dieses Textes werde ich hier jetzt nicht wiederholen. Sie haben dieses kleine und kurze Buch bestimmt schon gelesen.
Wie erwartet, waren die Reaktionen der deutschen Hauptmedien – Die Welt, FAZ – sehr kritisch, aber die kleineren Medien und besonders die Leser sehen es – zum Glück – anders. Das ist die Hoffnung für die Zukunft.
Die Hauptbotschaft des Buches ist klar, direkt und unmittelbar: die heutige Massenmigration, und die daraus sich ergebenen weitgehenden negativen Konsequenzen für die europäische Gesellschaft, haben nicht die Migranten, sondern die europäischen Politiker – an der Spitze mit deutschen Politikern – verursacht. Gerade das muss man, besonders hier in Berlin, laut sagen.
Ich weiß, dass es ein politisch sehr unkorrektes Statement ist – zum Glück mehr in Ihrem Land, als in meinem. Ihre Bundeskanzlerin wurde von den Tschechen vor zwei Wochen in Prag nicht positiv empfangen. Die Behörden waren nicht imstande, die Proteste totzuschweigen. Auch manche wichtigen Politiker haben Ihre Kritik ganz laut und deutlich geäußert. Sie hat die Proteste – wie immer und wie zu Hause – überhört. Sie hat – wahrscheinlich – sogar die Wahlergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern nicht in Betracht genommen.
Viele von uns wissen, dass das Thema der heutigen Zeit nicht das Mitleid, Barmherzigkeit und Solidarität, oder Gleichgültigkeit, Egoismus und die uralte Kleinbürgerei ist. Das Thema ist unsere Zukunft. Der FAZ Korrespondent in Schwerin – ganz aufrichtig überrascht – schrieb nach meiner dortigen Rede, dass ich die Massenmigration als das heutige Hauptthema interpretiere. Das konnte er nicht begreifen.
Er ist nicht allein. Die Mehrheit der europäischen und besonders deutschen Spitzenpolitiker verstehen es auch nicht. Mit ihrem Glauben an die durchaus wohltuenden Effekte der unbegrenzten Verschiedenheit der Menschen für eine zusammenlebende Volksgemeinschaft und mit ihrem Glauben an die vollkommen positiven und bereichernden Einwirkungen der Migranten, ihrer Ideen, ihrer Religion, ihrer Benehmensmuster haben sie die Migranten schon seit langer Zeit implizit, aber in der letzten Ära auch explizit eingeladen. Deshalb sind sie da.
Diese Politiker glauben wahrscheinlich aufrichtig an die Ideologie des Multikulturalismus, was aber schwer zu begreifen ist. Wollen sie wirklich aus den heutigen Migranten einen neuen europäischen Menschen, einen homo bruxelarum, erschaffen? Ich habe Angst, dass es leider so ist.
Vor zwei Wochen – am Anfang der AfD Mecklenburg-Vorpommern Wahlkampagne – hatte ich eine Rede in Schwerin gehalten. Am nächsten Morgen habe ich ganz zufällig in der Schweriner Volkszeitung ein Interview mit Ihrer Bundeskanzlerin gelesen. Der Titel war für mich wie von einem anderen Planet. Sie sagte: „Ich bin unverändert überzeugt, dass wir das schaffen“. Die Starrheit und Unveränderlichkeit der Ansicht kann eine positive Charakteristik sein, aber die Unfähigkeit aus Fehlern zu lernen, die Unbelehrbarkeit, ist ein Zeichen der geistigen Rigidität. Solches Benehmen in unserem gesellschaftlichen Raum, in „public space“, ist gefährlich.
Die heutige Massenmigration, die ich – glaube ich berechtigt – Völkerwanderung nenne, habe ich schon lange Zeit als Bedrohung der europäischen Zivilisation und Kultur, als Bedrohung der Freiheit und Demokratie, und nicht an der letzten Stelle als Bedrohung der europäischen Prosperität bezeichnet. Ich habe es als eine gefährliche Beschädigung unseres Lebens, unserer Lebensqualität, unserer Traditionen und Gewohnheiten betrachtet. Das finde ich das Wichtigste und Gefährlichste. Ich habe nie die einfache und billige Karte des Kampfes mit Terrorismus gespielt. Damit meine ich, dass ich das heutige Problem nie auf dieses Thema reduziert habe. Ich dachte immer – und denke auch heute – dass die Fortsetzung der Massenmigration anderer Kulturen und Zivilisationen Europa auch ohne Terrorismus vernichten wird.
Wie ich sagte, diesen Aspekt der Argumentation habe ich in der Vergangenheit nicht akzentuiert oder nach vorne gestellt. Ich habe es als zu einfach, oberflächlich und sogar ein bisschen trivial gefunden. Die Erfahrungen der letzten Monate haben es aber geändert. Jetzt ist es klar und evident – leider nicht für Ihre Bundeskanzlerin – dass die heutige Terrorismuswelle ein unvermeidlicher und unbehegbarer Bestandteil der Massenmigration ist.
Die heutige Terrorismuswelle kann hoffentlich auch den Menschen, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten nicht befassen, ihre Augen öffnen. Die unglaublichen und schreckerregenden menschlichen Tragödien, die uns fast jeden Tag die Medien bringen, werden – ich muss wiederholen – hoffentlich zu der massiven Augenöffnung der „schweigenden Mehrheit“ der europäischen Bevölkerung beitragen. Sonst haben wir keine Zukunft vor uns.
Václav Klaus, Die Rede in der Reihe „Recht und Freiheit in Europa“, Schiff „Spree Comtess“, Berlin, 7. September, 2016
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