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Deutsche Seiten, 17. 6. 2016
Herr Professor Klaus, in Ihrem Band „Völkerwanderung“ provozieren Sie mit einer überraschenden These: Die Migrationswelle, die Europa seit letztem Herbst erlebt, sei „nicht in erster Linie eine Folge des Zerfalls in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas“. Genau das wird allerdings (zumindest von den deutschen Medien & Politik) als Hauptursache dargestellt!
Wie verhält es sich nach Ihrer Ansicht aber tatsächlich? Was ist die wirkliche Hauptursache?
Mit unserem Buch wollten wir nicht provozieren. Das war nicht unsere Absicht. Wir wollten den Menschen eine Anleitung geben, die Migrationskrise besser zu begreifen. Wir wollten auch mit den Desinterpretationen der Ursachen der heutigen Migrationswelle kämpfen. Als eine Hilfe haben wir die ökonomische Terminologie benützt – die Situation im Nahen Osten und Nordafrika schafft nur das Angebot an Migranten. Die Nachfrage nach ihnen kam aber aus Europa. Die explizite (und implizite) Nachfrage war leider viel wichtiger.
Welche Rolle spielt dann der Zerfall im Orient und Afrika tatsächlich?
Der Zerfall im Orient und Afrika ist wichtig, er bereitet das Migrationspotenzial vor. Die unerträgliche Situation herrscht in diesen Ländern aber schon seit langer Zeit. Neu ist das Benehmen Europas.
Sie schreiben, „die Deutschen (und) Europäer und mit ihnen auch die Migranten (fallen) einer massiven Manipulation zum Opfer“. Was für einer Manipulation? Was meinen Sie genau?
Wir sehen die enorme ideologische Manipulation, etwas ähnliches, was wir in der Ära des Kommunismus erlebt haben. Auf der ersten Stelle in dieser Manipulation steht die Ideologie des Humanrightismus, die den unlösbaren Konflikt zwischen „human rights“ und Bürgerrechten mit sich bringt. Auf der zweiten Stelle gibt es die Ideologie der politischen Korrektheit. Dann kommt Multikulturalismus, etc.
Wer verübt diese Manipulation? Zu welchem Zweck? Wie funktioniert sie? Und was kann man dagegen tun?
Die Manipulation (und absichtliche Indoktrinierung der Menschen) machen die Leute, die diesen Ideologien zum Opfer gefallen sind. Es geht nicht um eine Konspiration von gewissen geheimnisvollen Persönlichkeiten. Dagegen muss man eine ideologische Alternative aufsetzen. Hoffentlich wird diese Rolle die Alternative für Deutschland gewährleisten.
Die Flüchtlingskrise, so sagen Sie, habe in Europa zu einem „ideellen Konflikt“ geführt. Dieser sei allerdings nicht– wie in der Regel unterstellt – „ein Konflikt zwischen Altruismus und Xenophobie“. Sondern? Bitte erklären Sie uns diesen interessanten Gesichtspunkt!
Das Wort Flüchtlingskrise ist falsch, wir befinden uns in einer Migrationskrise. Der Unterschied ist wesentlich. Wir sind darüber entsetzt, dass der heutige Konflikt in Europa als Konflikt zwischen Altruismus und Xenophobie interpretiert wird. Als eine moralische Frage dargestellt wird. Nein. Es ist ein Konflikt zwischen Moralismus (nicht Moral) und gesundem Menschenverstand. Zwischen dem falschen und nur vorgebenden Humanismus und menschlicher Verantwortung. Das Benehmen von Frau Merkel ist nicht moral, sondern nur moralistisch.
Sie sagen voraus, daß die Migrationskrise „zum Katalysator eines Wandels in der politischen Landschaft Europas“ werden wird. In Deutschland allerdings gehen die politischen & medialen Eliten davon aus, es handele sich nur um vorübergehende Friktionen. Die „offene“, multikulturelle Gesellschaft könne verteidigt und erhalten (sogar ausgebaut) werden. (Allenfalls komme es vielleicht zu einen Wandel am Rande des Gesellschaft.) Wird sich diese Annahme unserer Eliten als Trugschluß erweisen? Wie weit wird dieser von Ihnen vorhergesagte Wandel gehen? Wie wird nach Ihrer Ansicht etwa die deutsche politische Landschaft am Ende dieses Wandels aussehen?
Das ist eine zu lange Frage. Ich bin ganz sicher, dass wir nicht über „vorübergehende Friktionen“ sprechen sollen. Es ist viel mehr. Die heutige Krise und besonders ihre langfristige Folgen sollten zum Wandel führen. Das Wort „sollten“ habe ich absichtlich benützt. Ich habe nicht „müssten zum Wandel führen“ gesagt. Die Passivität der Menschen in der post-demokratischen Europa ist unerklärlich und unhaltbar. Ihre Sensitivität zum unbestreitbaren Wachsen der Unfreiheit und des staatlichen Interventionismus ist sehr niedrig, fast nicht existierend. Deshalb bin ich nicht optimistisch. Wir brauchen einen Paradigma Wechsel, den Wechsel unseres Benehmens und unseres Denkens. Die heutigen Eliten (oder vielleicht Quasi-Eliten) können leider noch ruhig schlafen. Das quält mich.
Sie formulieren in „Völkerwanderung“ zwei interessante Begriffe: Zum einen sprechen Sie von der „Unifizierung Europas“ zum anderen – analog zum Begriff „Gender Mainstreaming“ – von „Wander Mainstreaming“. Was meinen Sie mit diesen beiden Begriffen?
Schon lange Zeit unterscheide ich zwei Phasen (oder Stufen) der Entwicklung der europäischen Integration. Die erste Stufe ist die „alte Integration“ (Öffnung und Eliminierung verschiedener Hindernisse an den Grenzen europäischer Länder), die zweite Stufe ist die Unifizierung (Zentralisierung, Standardisierung, Harmonisierung) Europas. Dazu ist mein Buch „Europa braucht Freiheit“ (Lit Verlag, Berlin, 2012) gewidmet.
Der Begriff „Wander Mainstreaming“ ist nicht mein Wort. Das haben uns die Lektoren der deutschen Version des Buches “hineingeschmuggelt“.
Sie schreiben weiter, Ziel des „Wander Mainstreaming“ sei „Europa von Grund auf zu revolutionieren“. Welche Art Revolution droht uns da? Wie muß man sich diese Revolution vorstellen? Worauf zielt sie ab? Was sind ihre Methoden?
Die Ambition der europäischen progressistischen Eliten (in Politik, in den Medien, in der Akademie und Kultur) ist es, die Menschen in Europa zu ändern und sogar einen neuen Europäer zu gestalten. Sie wollen ein neues Europa schaffen und dazu brauchen sie neue Menschen. Mit den alten Einwohnern Europas (wie mir) kann man ihre „Brave New World“ nicht realisieren.
Was wird sich nach Ihrer Einschätzung am Ende durchsetzen? Der „katalytische Wandel der politischen Landschaft“ von dem wir oben gesprochen haben? Oder die „Revolutionierung von Grund auf“ als Folge des „Wander Mainstreamings“?
Ich bin kein Prophet, ich weiß es nicht. Das wissen die Leute an der anderen Seite der Barrikade. Fragen Sie Frau Bundeskanzlerin.
Ausdrücklich warnen Sie, daß wir in Europa – obwohl die Flüchtlingskrise ein Riesen-Thema ist – diese Krise unterschätzen. Inwiefern tun wir das? Welches Ausmaß hat diese Krise tatsächlich? Bzw. welches Ausmaß wird diese Krise noch annehmen?
Wieder eine Frage für das Orakel von Delphi :-). Die Politiker in Europa (und ihre fellow travelers) unterschätzen die Migrationskrise absolut. Sie träumen über gewisse positive „Beiträge“ der heutigen massiven Migration, die aber nicht existieren und nicht existieren werden. Und sie verstehen überhaupt nicht die wirklichen Kosten der Millionen Migranten.
Die Wichtigste ist bestimmt nicht die finanzielle Seite, diese Summen können die reichen EU-Länder noch eine Zeit lang tragen. Es ist weniger als die Summe, die Deutschland jährlich, schon seit 25 Jahren von Westdeutschland nach Ostdeutschland sendet, und auch weniger als die Summe, die Griechenland - als Geschenk, schon ein paar Jahre bekommt.
Viel wichtiger sind ganz andere Kosten. Die Zerstörung des Sozialkapitals Europas, die Verletzung der europäischen Kultur und Benehmensmustern, die Bedrohung des Jahrhunderte lang gebildeten Gewebe der europäischen Werte, Bräuche, Sitten und Traditionen, etc. Das diskutieren die Repräsentanten der „Willkommenskultur“ überhaupt nicht. Sie – wahrscheinlich – glauben an den Multikulturalismus. Sonst kann man es nicht begreifen.
Aber die Zuwanderungszahlen gehen doch zurück!?
Kurzfristig. Aber nur in der letzten Woche sind im Mittelmeer 700 Migranten ertrunken. Die Hauptfaktoren – das ursprüngliche Angebot der Migranten und die europäische Nachfrage nach Migranten – gehen nicht zurück.
In Ihrer Heimat war „Völkerwanderung“ – inklusive Nachdrucke – rasch vergriffen. Warum war das Buch dort so ein Erfolg? Und warum haben Sie sich entschieden, den Band nun auch auf deutsch, französisch und englisch zu veröffentlichen?
Die Debatte über Migration in der Tschechischen Republik ist „lebhaft“ und mannigfaltig und von der Regierung und der politischen Korrektheit noch nicht so limitiert wie in Westeuropa. Wir haben eine ganz andere Geschichte. Kommunismus hat uns etwas gelehrt. Wir sind empfindlicher als die Westeuropäer. Die Indoktrinierung und Manipulationen in den Medien kennen wir sehr gut. Sie gehören noch heute zu unserem historischen Gedächtnis.
Wir wollten nicht nur die tschechischen Leser aus dem Schlaf wecken. Besonders Deutschland finden wir wichtig – Deutschland ist ein heutiges Schlachtfeld Europas. Nichts kann in Europa ohne Deutschland geschehen. Das fühlen wir als eine Bedrohung unserer Freiheit.
Weitere Übersetzungen dieses Buches sind auch vorbereitet – z.B. Flämisch, Russisch und Serbisch.
Allerdings hat „Völkerwanderung“ eher den Charakter eines Essays, es liefert Thesen, aber keine Sachargumente. Ist das nicht eine Schwäche Ihres Buches?
Es ist wahrscheinlich „nur“ ein langes Essay, aber die Argumente sind da. Wir sprechen meistens über das Benehmen der europäischen Gesellschaft und besonders ihrer politischen Quasi-Eliten. Was kann man dazu „sachliches“ sagen? Wie kann man es messen oder wiegen? Für unsere Argumentation brauchen wir z.B. nicht die Detaildaten über Migranten. Wir brauchen nicht die Analyse der Situation in Syrien oder Irak. Wir brauchen nicht die Daten über die Anzahl von Verbrechen, die mit den Migranten verbunden sind. Wir brauchen auch nicht die Finanzkosten der Asylhäuser in Deutschland zu wissen. Etc.
Wir müssen darauf bestehen, dass wir analytisch denken und dass unsere Argumentation viele Ideen der Sozialwissenschaften und der Volkswirtschaftslehre benützen.
Sie sagen voraus, daß sich die gegenwärtige Masseneinwanderung nach Europa – die Sie „Völkerwanderung“ nennen –, ebenso verheerend auswirken könnte wie die historische Völkerwanderung vor 1.500 Jahren, die das antike Rom zerstört habe. Ist das aber nicht doch übertrieben?
Wir wollen unsere Mitbürger aufrütteln. Wir wollen sie aus dem Schlaf schütteln. Dazu muss man die stärkere Terminologie benützen. Wir haben wirklich Angst von der Zerstörung Europas. Ist es möglich diese Gefahr zu bagatellisieren? Wir bagatellisieren ununterbrochen das Risiko der (nicht existierenden) globalen Erwärmung, aber nicht der (existierenden) Migration. In diesem Fall müssen wir präventiv vorsichtig sein.
Allerdings kamen die damaligen Völker der Völkerwanderungszeit als Krieger. Heute kommen die Menschen dagegen als Hilfsbedürftige. Ist das nicht ein entscheidender Unterschied?
Die Mehrheit der heutigen Migranten sind nicht die Menschen, die Hilfsbedürftig sind. Das behauptet nur die politisch korrekte Propaganda. Ein besseres Leben zu suchen ist – individuell, nicht massenhaft – möglich, aber Hilfsbedürftig zu sein, ist etwas anderes. Gerade das ist der entscheidende Unterschied. Die Barbaren waren – in dieser Terminologie – auch hilfsbedürftige. Das Lebensniveau in Rom war ohne Zweifel höher als im Norden Europas.
Sie betonen ausdrücklich, daß sich Ihr Buch „nicht gegen die Migranten“ wendet. Sondern? Gegen wen richtet es sich? Und: Warum ist es ihnen wichtig, dies zu betonen?
Unser Buch wendet sich gegen die heutigen europäischen Spitzenpolitiker und ihre Entourage (die EU-Beamten und die Medienmanipulatoren). Wendet sich aber auch gegen uns alle, weil wir es erlaubt haben. Durch unsere Passivität, Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit. Ich habe wirklich Angst um Europa – dort werden unsere Kinder und Enkelkinder leben.
Václav Klaus, Junge Freiheit, 17. Juni 2016.
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