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Deutsche Seiten, 26. 4. 2004
Herr Klaus, am kommenden Samstag wird Tschechien gemeinsam mit neun anderen Ländern der EU beitreten. Für Sie ein Anlass zur Sorge oder zur Freude?
Klaus: Ich habe schon jetzt die Jubelreden im Ohr. Da werden wieder viele vom neuen Zeitgeist schwärmen und in lyrischen Tönen schwelgen. Dabei hat die EU-Mitgliedschaft nichts mit Poesie zu tun. Bitte vergessen Sie nicht: Wir werden nicht Mitglied Europas, sondern Mitglied der EU – und das ist keine lyrische, sondern eine sehr prosaische Organisation.
Das heißt, Sorgen überdecken die Freude?
Klaus: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Natürlich wollen wir uns an der EU, an der Integration des Kontinents beteiligen. Tschechien liegt im Herzen Europas, für uns gibt es gar keine andere Möglichkeit. Hätte es den Februar 1948, den Putsch der tschecheslowakischen Kommunisten und später die Invasion der Sowjets nicht gegeben, würden wir natürlich zu den Gründungsvätern der EU und auch der Nato gehören. Daher gehen wir jetzt nur zu einer normalen Situation.
Welche Ideen, welche Visionen bringen Sie und die Tschechen in die Union ein?
Klaus: Die ursprüngliche europäische Idee war klar und logisch: den Frieden nach dem zweiten Weltkrieg dauerhaft zu machen, durch eine Öffnung des Kontinent. Das ist auch meine Vision: ich will in Freiheit leben, in einer offenen Gesellschaft. Diese Vision ist für uns, die wir 40 Jahre lang eingesperrt waren, ganz anders spürbar als für viele in Westeuropa. Die Realität der EU ist aber eine ganz andere. Sie besteht nicht aus Freiheit und Offenheit, sondern aus Bürokratisierung, Dirigismus, Regulierung und Harmonisierung. Der Staatsinterventionismus wird auf internationaler Ebene immer stärker – und das geht auf Kosten der Freiheit.
Das heißt, die EU in gegenwärtiger Brüssler Prägung bewegt sich in die falsche Richtung?
Klaus: Es ist nicht die EU, die abdriftet, sondern die europäische Gesellschaft. Wir müssten 30 oder 40 Jahre zurück, zum geistigen Klima der Gründungsväter. Oder noch besser: zurück zur Ideologie der Freiheit von Friedrich von Hayek. Statt dessen muss man heute einen Sieg des Sozialismus auf der internationalen Ebene konstatieren. Der Sozialismus kann sich offenbar leichter in internationalen Organisationen wie der EU durchsetzen als auf nationaler Ebene – weil in Brüssel eben nicht Wähler entscheiden. Das ist das eigentliche demokratische Defizit der EU und meine Hauptkritik.
Welchen Sozialismus meinen Sie konkret. Wohl kaum den sowjetischen Sozialismus?
Klaus: Ich meine den real existierenden Sozialismus der sozialdemokratischen und der sozialistischen Parteien in Europa. Aber er lässt sich auch in anderen europäischen Parteien finden.
Damit kritisieren Sie auch konservative oder christdemokratische Parteien?
Klaus: Ich habe keinen Grund, die christdemokratischen Parteien von oben herab zu kritisieren. Aber ich werfe ihnen vor, sich nicht genügend gegen sozialistische Positionen in Europa zu wehren, sie sind zu weich.
Ist für Sie auch der Begriff „Soziale Marktwirtschaft zu kollektiv eingefärbt?
Klaus: Ich kann und will diesen Terminus nicht benutzen, das widerspricht all meinen Überzeugungen. Man darf nicht mit dem Wort „sozial“ beginnen, sondern muss von einem „Markt mit einer vernünftigen Sozialpolitik“ sprechen.
Zurück zur EU-Erweiterung. Welche ökonomischen Effekte erwarten Sie?
Klaus: Vom 1. Mai verspreche ich mir überhaupt nichts neues. Das ist ein formales Datum, das keine Veränderung bringen wird. Die wichtigsten Anpassungen haben längst stattgefunden. Es wird also keine neue Dynamik geben – weder im positiven noch im negativen Sinne.
Anders gefragt - was bringt der Prozess der Integration den Ländern in Mitteleuropa?
Klaus: Dies ist sicherlich ein historischer Moment in unserer 1000-jährigen Geschichte, das nehme ich sehr ernst. In der Sache bleibe ich aber dabei, der 1. Mai bringt nichts neues. Die Liberalisierung der Wirtschaft habe ich in Tschechien selbst als Finanzminister und Regierungschef schon vor vielen Jahren eingeführt. Leider erwarten die Menschen jetzt etwas neues – doch das wird nicht kommen und daher Enttäuschung auslösen.
Werden wenigstens die Grenzen zwischen West- und Zentraleuropa durchlässiger werden?
Klaus: Es ist zu einfach, Grenzen mit Unfreiheit und den Wegfall von Grenzen mit Freiheit gleichzusetzen. Klar, auch ich hoffe darauf, irgendwann mal ohne Ausweis nach Deutschland fahren zu können. Mit einer Erhöhung meiner persönlichen Freiheit hat das aber nichts zu tun. Wenn man schon das Bild vom Europäischen Haus bemüht, was mir eigentlich nicht liegt, dann sehe ich ein Haus ohne Gitter vor mir, aber mit Türen vor den Wohnungen – und zwar verschließbaren Türen.
In Deutschland spielt die Sorge vor der Zuwanderung von Arbeitskräften eine große Rolle in der Debatte, obwohl die Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus den Beitrittsländern zunächst beschränkt bleibt...
Klaus: Reine Politisierung. Das ist überhaupt kein Problem, eine Bedrohung des deutschen Arbeitsmarktes existiert nicht. Wenn es überhaupt eine Zuwanderung geben wird, dann findet die unmerklich statt.
Wenn schon die Arbeitskräfte nicht wandern, dann die Arbeitsplätze – und zwar von West nach Ost. Die Bundesregierung wirft der eigenen Wirtschaft bereits mangelnden Patriotismus vor.
Klaus: Der ganze Outsourcing-Streit ist eine rein politische Debatte. Wer so argumentiert, muss wissen, ob er freie Märkte will oder doch lieber eine weitreichende Harmonisierung. Was ich in dieser Richtung vom deutschen Bundeskanzler oder auch dem schwedischen Ministerpräsidenten höre finde ich fast unglaublich.
Der schwedische Premier Persson hatte die Haltung der Beitrittsländer kritisiert, Milliarden aus Brüssel einzufordern, aber von den Reichen im eigenen Land keine Steuern einzutreiben...
Klaus: Ein völlig unhaltbarer Vorwurf. Unter dem Strich erwarte ich von der EU überhaupt kein Geld. Klar bekommen wir Hilfen, wir bezahlen aber auch einen Beitrag ein. In den ersten Jahren werden wir sogar Nettozahler sein.
Haben die Beitrittsländer nach dem 1. Mai eine Chance, den Trend zur Harmonisierung und Überregulierung in der EU zu beeinflussen?
Klaus: Nein. Es sieht nicht so aus, dass wir genug Gewicht haben, daran irgendetwas ändern könnten.
Die EU debattiert noch immer über eine eigene Verfassung, über eine Anpassung der Stimmverhältnisse der einzelnen Länder im Ministerrat. Kann das demokratische Defizit der EU auf diesem Wege gelindert werden?
Klaus: In der Tagespolitik muss ich natürlich eine Position dazu haben. Und eine erforderliche Mehrheit von 60 Prozent ist besser als 50 Prozent. Aber eigentlich liegen diese Fragen unterhalb meines Aufmerksamkeitsnivaus, ich würde darüber nie einen Aufsatz schreiben. Im Prinzip bin ich zu 100 Prozent gegen jede Mehrheitsabstimmung.
Sie argumentieren für die Beibehaltung des Vetorechtes – doch verliert die erweiterte EU damit nicht jede Entscheidungsfähigkeit?
Klaus: Nein. Dieser Auffassung liegt ein grundsätzliches Missverständnis zu Grunde, dass bei europäischen Politikern leider sehr weit verbreitet ist. Es gibt einen klaren Interessenskonflikt zwischen der Erweiterung der EU und der Vertiefung der Integration. (Klaus skizziert eine Grafik auf einen Notizzettel). Wenn wir die Integrationstiefe auf die eine Achse legen, und die Zahl der Mitglieder auf die andere, liegt jede mögliche Kombination auf einer klar definierten Kurve – aber viele europäischen Politiker suchen einen Punkt weit außerhalb dieser Kurve. Klar – wir können die Vertiefung vorantreiben und auch noch Kasachstan, die Türkei und Moldawien aufnehmen. Aber nicht, ohne Freiheit und Demokratie zu beschädigen.
Auch in der Frage des Beitritts zur Euro-Zone haben Sie Bedenken. Warum eigentlich?
Klaus: Ich bin nicht gegen den Euro, sondern gegen die vorschnelle Einführung. Die Wirtschaft der Beitrittsländer brauchen eine reale Konvergenz, nicht nur die nominale. Gerade die Deutschen wissen, wovon ich rede: Ostdeutschland hätte eine reale Annäherung der Wirtschaftsstrukturen benötigt, doch durch die Einführung der D-Mark im Verhältnis 1:1 haben Sie den Ostdeutschen eine nominale Konvergenz aufgezwungen – und damit gewaltige Probleme ausgelöst, die heute noch immer nicht gelöst sind. Und dabei gibt es im deutschen Fall massive brüderliche Finanztransfers. Eine zu frühe Euro-Einführung würde uns genauso schaden, wie die D- Mark Ostdeutschland geschadet hat. Aber wir müssten ohne jede Kompensation dafür auskommen. Genau darum dürfen wir den Beitritt zur Euro-Zone nicht übereilen.
Trotz aller Skepsis: Womit werden Sie am 1. Mai anstoßen, Sekt oder Selters?
Ich werde die wichtigsten Repräsentanten meines Landes einladen und eine Rede halten. Das wird keine lyrische Jubelrede, sondern kritische Prosa. Aber an so einem Tag darf es danach schon ein Glas Sekt sein.
Ulrich Glauber und Georg Watzlawek, Handelsblatt , 26.4.2004
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