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Deutsche Seiten, 17. 5. 2014
Vielen Dank für die heutige Einladung gerade in dieser Zeit, ein paar Tage vor den – man muss sagen – unauthentischen Europawahlen. Nicht nur die Wahlen sind aber unauthentisch. Für mich ist die gesamte europäische Entwicklung in den letzten Jahrzenten zu sehr konstruktivistisch und von oben organisiert.
Am Anfang möchte ich warnen, dass ich auch heute keine rosigere Botschaft für Sie habe. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, dass die Situation in Europa heute besser als vor drei Jahren geworden ist, aber so sehe ich es nicht. Für mich war über die letzten Jahre verlaufende, akute Schuldenkrise nie die wirkliche Substanz der langfristigen europäischen Probleme. Diese Krise, die noch andauert, war nur die sichtbarste Erscheinung der viel tiefer gehenden Probleme, die uns geblieben sind, weiterhin bleiben und bleiben werden. In Europa sehe ich heute – wie vor 3 Jahren, aber auch wie vor 10 oder 20 Jahren – die fortschreitende Verstärkung der zentralistischen und bürokratischen Regulierung und Reglementierung der Wirtschaft und der ganzen Gesellschaft, das wachsende Pharisäertum der politischen Korrektheit und die immer mehr geschädigte parlamentarische Demokratie.
Die Herausforderung, vor der wir heute in Europa stehen, nehme ich sehr ernst, so wie vor 25 Jahren den Kollaps des Kommunismus und den komplizierten Aufbau der freien und demokratischen Gesellschaft in unserem Land und im ganzen Mittel- und Osteuropa. Unsere Entwicklung war in diesen 25 Jahren relativ positiv, aber das wäre ein ganz anderes Thema.
Kurz nach meinem Besuch hier in Brixen habe ich ein Buch über Europa verfasst. Es wurde auf Tschechisch geschrieben und mit dem Titel „Europäische Integration ohne Illusionen“ herausgegeben. Das Buch hat inzwischen mehrere Ausgaben in anderen europäischen Sprachen, auch auf italienisch „Integrazione Europea Senza Illusioni“. Der deutsche Herausgeber hat das Buch anders genannt: „Europa braucht Freiheit“, was ich eigentlich auch sagen wollte.
In diesem Buch kritisiere ich nicht die Einzelheiten des europäischen Integrationsprozesses, sondern ihn als Ganzes. Ich befasse mich auch nicht nur mit der immer imperfekten Realität. Meine Kritik bezieht sich auf die Idee, auf das Model, auf das ganze Konzept der europäischen Integration. Gleich am Anfang möchte ich klarstellen, dass mich die zweite Phase dieses Prozesses mehr als die Erste beunruhigt, d. h. nicht die Liberalisierungsetappe am Anfang, sondern die zentralistischen, bürokratischen und interventionistischen Tendenzen heute.
Jetzt fühle ich, dass wir uns in einer Sackgasse befinden. In einer Sackgasse und nicht in einem Engpass, was ein großer Unterschied ist. Der Engpass bietet verschiedene Alternativen. Aus einer Sackgasse gibt es nur den Weg zurück. In diesem Fall den Weg zu den Wurzeln, auf deren Europa ihre historischen Erfolge, ihre Freiheit und ihre Prosperität aufgebaut hat.
Was mich derzeit besonders stört, ist, dass trotz vieler offensichtlichen Misserfolge der Europäischen Union und trotz Kritik, die wir fast täglich sehen, hören und fühlen können, marschieren wir weiterhin in die gleiche Sackgasse. Es scheint, dass die Leute in Europa sich darüber nicht stören lassen.
Ich bin überzeugt, dass man nicht
- die immer mehr verschlechternden europäischen Wirtschaftsdaten,
- der allmählich abnehmende Respekt vom Rest der Welt gegenüber Europa,
- die beschleunigte Vertiefung der sogenannten demokratischen Defizite,
- die Steigerung der Frustration vieler Europäer, etc. verbergen kann.
Diese (und viele andere) Charakteristiken haben leider keine massive Aufmerksamkeit erweckt. Ich befürchte, dass sogar die jetzigen europäischen Wahlen keine radikale Änderung in dieser Hinsicht bringen werden. Bei uns, in der Tschechischen Republik bestimmt nicht.
Vor zwei Wochen hätten wir in unserem Land die ersten 10 Jahre Mitgliedschaft in der EU feiern sollen. Die Tschechen haben aber diesen Jahrestag nicht gefeiert. Leute wie ich sehen keinen Grund zum Feiern. In diesen 10 Jahren haben wir bestimmt etwas gewonnen, aber auch etwas verloren. Die Kosten-Nutzen Analyse dieser spezifischen Investition ist schwierig und nicht klar und überzeugend. Es war kein „controlled experiment“. In unseren Ländern spricht man sehr oft über das Geld, das wir von der EU bekommen, aber unsere EU Mitgliedschaftsdebatte sollte nicht auf das Thema der europäischen Finanztransfers begrenzt werden. Das zu tun, ist eine reine Manipulation. Die Summe von ungefähr 1 % des BSP, die wir im Durchschnitt jährlich bekommen, ist nicht wichtig. Es gibt viele „Gegenkosten“, die man leider nur sehr schwer quantitativ darstellen kann.
Was uns zur Zeit am meisten beunruhigt, ist die Verschlechterung der politischen Atmosphäre und des politischen Systems, die in den letzten Jahren in Europa verläuft – die Schwächung der Freiheit, der Übergang zur Postdemokratie, irrtümlich als Demokratiedefizit genannt, die massive Verschiebung der Kompetenzen von individuellen Staaten auf die EU-Ebene, die Zentralisierung, Harmonisierung, Standardisierung und Überregulierung der Wirtschaft.
Wir wussten, zumindest einige von uns wussten, dass uns das Beitreten zur EU neue Probleme einbringen wird. Nach dem Fall des Kommunismus wollten wir freie, liberale Gesellschaft, aber das Beitreten zur EU hat uns – nach unserer radikalen Liberalisierungsphase in den neunziger Jahren - eine unerwartete Wende eingebracht: wir bewegen uns von Deregulierung zur wachsenden Regulation, von Beseitigung der Subventionen zu ihrer Neueinführung, vom Rückzug des Staates aus der Wirtschaft zur wachsenden staatlichen Einmischung, von der Verstärkung der Selbstverantwortung der Menschen zu ihrer wachsenden Abhängigkeit vom Staat und ihrer sozialen Systeme.
Manchmal habe ich Schwierigkeiten klar zu machen, dass die Verschiebung der Kompetenzen von individuellen Staaten auf die EU-Ebene keine Abschwächung der Rolle des Staates ist, sondern die unerwünschte Bestärkung des europäischen Super-Staates, der EU, die weniger demokratisch ist, als jeder einzelne, individuelle europäische Staat. Diese Entwicklung erhöht nicht die Freiheit und Demokratie in Europa, ganz im Gegenteil, sie schwächt sie.
Ich habe keine Absicht hier heute Abend eine langweilige volkswirtschaftliche Rede zu halten. Man sollte aber ein paar Worte zu der hoch problematischen europäischen Währungsunion sagen. Es ist evident, dass die bisherige Existenz der europäischen Währungsunion nicht die positiven Effekte geliefert hat, die die Menschen in Europa – zu Recht oder zu Unrecht – erwartet haben. Es wurde ihnen versprochen, dass die Währungsunion das Wirtschaftswachstum beschleunigt, die Inflation senkt und vor allem ihre Mitgliedstaaten vor verschiedenen externen Störungen schützen wird.
Nichts davon ist eingetreten. Eher das Gegenteil. Nach der Entstehung der Eurozone hat sich das Wirtschaftswachstum in ihren Ländern verlangsamt. Auch die Handelsbilanzen und Staatshaushalte haben sich verschlechtert. Die Arbeitslosigkeit ist viel höher.
Es ist nicht überraschend. Viele von uns haben lange Zeit gewusst, dass die Idee einer gemeinsamen Währung für ganz Europa falsch und gefährlich sein wird, und dass sie zu großen wirtschaftlichen Problemen und notwendigerweise auch zu der undemokratischen Zentralisierung des Kontinents führen muss. Genau das passierte. Die Eurozone der heutigen 18 Staaten ist keine „optimale Währungszone“. Ihr Entstehen war eine rein politische Entscheidung.
Die Politiker sollten in Betracht nehmen, dass wenn die Währungszone keine optimale Währungszone ist, kann es nicht anders sein, als dass die Kosten für ihre Schaffung und Erhaltung die Erträge übersteigen, die das Funktionieren der Währungszone mit sich bringt. Die europäischen Politiker haben es nicht getan. Die meisten Beobachter waren mit der Leichtigkeit des ersten Schrittes (Gründung der gemeinsamen Währungszone) mehr als zufrieden. Es wurde der Eindruck erweckt, dass mit diesem Projekt alles in Ordnung sei.
In den letzten Jahren wurden aber die negativen Effekte der zu engen „Zwangsjacke“ der gemeinsamen Währung immer mehr evident. Bei „gutem Wetter“ (im ökonomischen Sinne des Wortes) entstehen keine unlösbaren Probleme. In einer Krise (oder „bei schlechtem Wetter“) zeigt sich die fehlende Homogenität Europas sehr stark. Solche leicht verletzbare Währungszone aufrechtzuerhalten ist sehr kompliziert und sehr teuer.
Über die weitere kurz- oder mittelfristige Entwicklung der Eurozone möchte ich nicht spekulieren. Meiner Einschätzung nach wird der Euro nicht scheitern, da in seine Existenz zu viel politisches Kapital investiert wurde. Das Projekt wird fortgesetzt werden – aber um einen enormen Preis, der durch sehr niedriges Wirtschaftswachstum (oder sogar Stagnation) und hohe Finanztransfers manifestiert wird.
In diesem Zusammenhang sollte man z. B. Griechenland erwähnen. Unlängst habe ich die Frage bekommen, ob der weitere Rettungsschirm diesem Land helfen wird. Meine Antwort war: „Es ist falsch, dass es als ein Rettungsschirm für Griechenland bezeichnet wird. Es handelt sich um einen Rettungsschirm für die Utopie der Eurozone.“ Und die Utopien sind immer teuer. Und unhaltbar.
Alle diese Probleme diskutieren wir schon lange Zeit. Von Zeit zu Zeit kommt aber etwas Neues. Diese Themen bekommen jetzt eine neue Relevanz in Verbindung mit der gegenwärtigen Entwicklung in der Ukraine. Die Situation dort und unser Benehmen dazu sind gefährlich. Ich bin stark davon überzeugt, dass wir gegenüber einer Fehlinterpretation der Ereignisse in diesem Land und in seiner Umgebung stehen. Es geht nicht nur um die Ukraine. Es ist evident, dass manche Politiker und Aktivisten in Europa (und Amerika) versucht haben, die Ukraine als ein Instrument zu benutzen, um die feindliche Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland wieder zu beginnen. Die Ukraine, mit ihrer langexistierenden Unselbsverständlichkeit und Zerbrechlichkeit sowohl im politischen als auch im ökonomischen Sinne, kann es nicht überstehen. Dieses Land zu einer Entscheidung zu zwingen, ob das Land zum Westen oder Osten gehört oder gehören soll, ist eine sichere Methode es zu vernichten.
Die im Februar veröffentlichte Stellungnahme meines Institutes hat es sehr resolut formuliert: „Die Ukraine zu einer Entscheidung zu zwingen, sich zwischen West und Ost zu entscheiden, würde das Land zerstören… Es würde das Land in einen unlösbaren Konflikt führen, welcher nur ein tragisches Ende haben kann“. Das haben wir vor drei Monaten geschrieben. Ich bedauere, dass es genau das ist, was sich vor unseren Augen heute abspielt.
Die Mainstreammedien und Politiker versuchen uns einzureden, dass sie sich in die Ukraine einmischen um dort die Freiheit und Demokratie zu retten. Dem ist nicht so. Die Freiheit und Demokratie dort zu retten, braucht etwas anderes. Die Ukraine muss die Gelegenheit bekommen, ihre eigenen Probleme ohne ausländische Interventionen selbst zu lösen. Sowohl vom Westen als auch vom Osten.
Ich erwarte, dass mich jetzt jemand an die russische Annexion von Krim erinnern wird. Oder die sowjetische Invasion in die Tschechoslowakei im August 1968 mit dem was vor einigen Wochen in Krim geschehen ist, vergleichen wird. Ich bestehe darauf, dass die gewaltige politische Destabilisierung der Ukraine kein authentischer Volksaufstand war, sondern eine importierte Revolution, die nicht von Russland ursprünglich ausging. Ihre Organisatoren hatten andere Pläne und Ambitionen als Freiheit und Demokratie in die Ukraine einzuführen. Sie wollten eine Konfrontation mit Russland herbeiführen. In der zweiten öffentlichen Stellungnahme meines Institutes zu diesem Thema (Anfang März) formulierten wir es folgendermaßen: „Die Abfolge von Ursachen und Konsequenzen ist evident - es ging von den Ereignissen in Kiev Maidan zur russischen Truppen in Krim. Wir dürfen nicht am Ende beginnen“.
Eine neue Ära der steigenden Spannung in Europa und der gesamten Welt herbeizuführen, den internationalen Status quo zu destabilisieren und rhetorisch zurück zum Kaltem Krieg zu wechseln, ist eine gefährliche Methode das Interesse der Menschen von offensichtlichen Misserfolgen des europäischen Integrationsprozesses, vom Euro und von den unhaltbaren Schulden abzulenken.
Das Opfer dieser Ambitionen ist die Ukraine und die Menschen die dort leben. Sie brauchen diese Entwicklung nicht und sie haben sie auch nicht verdient, auch wenn die Verantwortung bei den ukrainischen Politikern liegt, die für das Nichtlössen der langandauernden ukrainischen Problemen verantwortlich sind. Ukraine hat die notwendige politische und ökonomische Transformation des Landes nach dem Fall des Kommunismus nicht durchgemacht.
Weitere Opfer heutiger Ereignisse sind die europäischen Demokraten, d. h. wir alle. Die Konfrontation, Gefahr und Angst wird schnell benutzt um europäische Unifizierungsprozesse zu beschleunigen, um das Schaffen eines zentralisierten europäischen Super-Staates mit begrenzten bürgerlichen Rechten. Das Opfer wird die Demokratie in Europa sein.
Die heutige Atmosphäre wird uns näher zu „Brave New World“ bringen, wie es vom Aldous Huxley vor 80 Jahren hervorragend beschrieben wurde. Wir, Tschechen, haben eine Form der „Brave New World“, nämlich den Kommunismus, vor 25 Jahre beseitigt und wissen einiges darüber. Wir waren nicht naiv und haben auch nicht erwartet, dass unser Beitritt zur EU dem Beitreten ins Paradies gleich sein wird. Die Realität ist aber schlimmer, als wir erwartet haben. Und die Perspektiven sind nicht viel besser.
Unser Kontinent braucht eine neue Wende, einen neuen Wiederaufbau. Wir müssen unser Denken, unser Benehmen, unsere Ambitionen und Bestrebungen ändern. Die heutigen kosmetischen Maßnahmen sind nicht genügend. Ich habe Angst, dass die Europawahlen in dieser Hinsicht nichts Neues bringen werden. Ich wünsche Ihnen viel Glück und Erfolg bei diesen Wahlen. Ich werde Ihnen die Daumen drücken.
Václav Klaus, Brixen, 16. Mai 2014.
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