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Deutsche Seiten, 15. 6. 2012
Vielen Dank für Ihre Einladung. Vielen Dank für die Gelegenheit wieder einmal in Berlin sein zu dürfen. Der heute gefeierte Tag des deutschen Familienunternehmens zeigt, dass Sie – in Deutschland – Familienunternehmen noch heute haben. Bei uns wurden, sogar die Kleinsten, in der kommunistischen Zeit praktisch völlig liquidiert. Heute haben wir bei uns schon wieder Privatfirmen, nur wenige von ihnen sind authentische Familienunternehmen. Unsere Marktwirtschaft ist noch zu jung und Familienunternehmen wachsen langsam.
Das zu beschreiben wird aber kein Thema meiner heutigen Rede sein. Ich möchte heute Abend über die Situation in Europa reden, über die künstliche, nicht spontan entstehende, in letzter Zeit leider radikal beschleunigende Unifizierung des europäischen Kontinents, die vor unseren Augen abläuft. Wie es so oft in der Geschichte und in ähnlichen Situationen geschieht, bringt die heutige europäische Entwicklung die ungeplanten und unerwünschten Konsequenzen, die die ganz entgegengesetzte Prozesse in Gang setzen. Ich spreche seit langem über die exzessive Unifizierung Europas und warne davor, dass sie zu großen Problemen, sogar zur Desintegration, führen wird. Ich habe nicht erwartet, dass die Tiefe der Probleme, die wir heute erleben, so schnell kommt.
In Deutschland habe ich schon mehrmals zu diesem Thema gesprochen. In der Vergangenheit, noch vor ein paar Jahren, wollten meine Zuhörer nichts Kritisches oder Negatives über die Entwicklung in Europa hören. Schon immer habe ich trotzdem vor dem naiven Optimismus verschiedener Eurokraten oder vielleicht Euronaivisten gewarnt und habe mich bemüht, die gefährlichen langfristigen Tendenzen, die diese Menschen nicht genügend wahrgenommen haben, zu erörtern.
Ich erinnere mich, dass icheinmal hier in Berlin, nicht weit von hier, am anderen Ende dieser Straße,die Frage gestellt habe, wohin gehen wir und als eine Argumentationshilfe habe ich den weltbekannten tschechischen Schriftsteller und Dramatiker Milan Kundera zitiert, der am Ende seines Theaterstückes „Jacob der Fatalist“ zu dieser Frage sagte: „Vorwärts, aber wohin ist vorwärts?“Wie erwartet, blieb nach diesem Satz der Hauptprotagonist des Stückes wie gelähmt stehen.
Die Situation in Europa habe ich in dieser Zeit sehr ähnlich empfunden. Ich hatte und habe auch heuteAngst, dass Freiheit sowie Prosperität in Europa bedroht werden. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir – um vorwärts gehen zu können – erstmal ein paar Schritte zurückgehen müssen. Zurück zu den Wurzeln, auf denen Europa ihre historische Erfolge, ihre Freiheit und ihre Prosperität aufgebaut hat.Der schweizerische liberale Denker Robert Nef hat vor ein paar Monaten argumentiert, dass wir uns in einer Sackgasse befinden. Und er sagte ganz überzeugend: "Aus einer Sackgasse gibt es nur den Weg zurück", nicht vorwärts. Das zu sagen ist kein Europessimismus. Das ist die realistische Einschätzung der heutigen Situation.
Was sehe ich in Europa? An der Achse Bürger vs. Staat und an der Achse Markt vs. zentralistische und bürokratische Regulierung und Reglementierung der Wirtschaft und Gesellschaft sehe ich – und bestimmt nicht nur ich – eine gefährliche Entwicklung die gegen uns geht. Jeder, der offene Augen hat, muss auch das wachsende Pharisäertum der politischen Korrektheit und die beschädigte parlamentarische Demokratie oder sogar Postdemokratie sehen. Man muss die ständig steigenden Ansprüche der Menschen sehen, die – wegen der zu großzügigen Sozialpolitik – von den Leistungen abgetrennt und sogar immunisiert wurden. Man muss sich auch die Frage stellen, ob die europäische Wirtschaft die Maßnahmen, die von der Ideologie des Environmentalisms (oder Ökologismus) kommen, überstehen kann.
Die Herausforderung, vor der Europa heute steht, nehme ich sehr ernst, ähnlich wie vor 22 Jahren den Kollaps des Kommunismus und den komplizierten Aufbau der freien und demokratischen Gesellschaft in unserem und auch im Ihrem Land und im ganzen Mittel- und Osteuropa. Jetzt stehen wir vor ähnlichen Aufgaben. Das heutige Problem Europas wird nicht an den immer häufigeren EU-Gipfelkonferenzen gelöst, seine Tiefe und Dringlichkeit brauchen etwas Anderes. Wieder einmal braucht es eine fundamentale Wende, einen Wechsel des gesamten Paradigmas unseres Benehmens und unseres Denkens. Das sollten auch die Politiker begreifen.
Das sind von mir keine neuen Aussagen. Über Europa habe ich in der letzten Jahren viele Reden gehalten, viele Aufsätze geschrieben und sogar Bücher verfasst. Am Anfang des letzten Jahres wurde mein Buch (eine Sammlung meiner Reden und Aufsätzen) zu diesem Thema auch in Deutsch in Nürnberg veröffentlicht. Im November 2011 wurde mein neues Buch mit dem Titel „Die Europäische Integration ohne Illusionen“ in der tschechischen Sprache in Prag herausgegeben. Die Korrektur seiner deutschen Ausgabe habe ich in den letzten Tagen beendet.
Zum ersten Mal fühle ich jetzt mit Vergnügen, dass endlich begriffen wird, dass wir vor einer fundamentalen Entscheidung stehen, vor einer Entscheidung, die bald getroffen werden muss: Sollen wir die Tiefe der heutigen europäischen Krise und ihren nichtzufälligen und nichtvergänglichen Charakter weiter ignorieren oder sollen wir die europäische Situation ernstnehmen?
Wenn ich das Wort Krise benutze, meine ich nicht die akute Verschuldungskrise der Eurozone. Ich spreche über die lange Zeit existierende Krise des europäischen Wirtschafts- und Sozialsystems und des Models der europäischen Integration.
Mich beunruhigt, dass die Mehrheit der europäischen Politiker noch heute glaubt, dass die Entwicklung in Europa im Prinzip positiv ist, dass die Probleme, vor denen wir heute stehen, nicht fatal sind und dass die alten oder nur teilweise modifizierten Politiken fortgesetzt werden können. Das ist für mich ganz unverständlich.
Die reale Situation in Europa zwingt uns, es anders zu sehen – unter der Bedingung, dass wir mit dem jetzigen Zustand nicht zufrieden sind, dass wir die andauernde europäische Stagnation überwinden, dass wir die europäische Verschuldungskrise beseitigen und vor allem, dass wir zur Demokratie in Europa zurückkehren wollen. Die letzte „Bedingung“ ist für mich die Allerwichtigste.
Das sichtbarste und kurzfristig dringendste Problem des heutigen Europa ist das Schicksal (oder die Zukunft) der Europäischen Währungsunion. Man sollte laut sagen können, dass die ersten zehn Jahre der Existenz dieser Währungsunion nicht die positiven Effekte geliefert haben, die man – zu Recht oder zu Unrecht – erwartet hatte. Es wurde versprochen, dass die Währungsunion das Wirtschaftswachstum akzelerieren, die Inflation senken und vor allem ihre Mitgliedstaaten vor verschiedenen externen Störungen schützen wird.
Nichts davon ist eingetreten. Ganz umgekehrt. Nach der Entstehung der Eurozone hat sich das Wirtschaftswachstum in deren Ländern im Vergleich zu den vorherigen Jahrzehnten verlangsamt. Auch die Handelsbilanzen und Staatshaushalte haben sich verschlechtert.
Es ist nicht ganz überraschend. Viele von uns haben lange Zeit gewusst, dass die Idee einer gemeinsamen Währung für ganz Europa falsch und gefährlich sein wird, und dass sie zu großen wirtschaftlichen Problemen und notwendigerweise auch zu der undemokratischen Zentralisierung des Kontinents führen muss. Genau das passierte. Die Eurozone der heutigen 17 Staaten ist ohne Zweifel keine „optimale Währungszone“. Ihr Entstehen war eine rein politische Entscheidung.
Die Politiker sollten aber in Betracht nehmen, dass wenn die Währungszone keine optimale Währungszone ist, kann es nicht anders sein, als dass die Kosten für deren Schaffung und Erhaltung die Erträge übersteigen, die das Funktionieren dieser Währungszone mit sich bringt. Die Wörter „Schaffung“ und „Erhaltung“ sind wichtig. Die meisten Beobachter waren mit der Leichtigkeit des ersten Schrittes (Gründung der gemeinsamen Währungszone) zufrieden. Es wurde der Eindruck geweckt, dass mit diesem Projekt alles in Ordnung ist.
In den letzten Monaten und Jahren wurden die negativen Effekte der zu engen „Zwangsjacke“ der gemeinsamen Währung mehr und mehr evident. Beim „guten Wetter“ (im ökonomischen Sinne des Wortes) entstehen keine unlösbaren Probleme. In einer Krise (oder „beim schlechten Wetter“) manifestiert sich der Mangel an Homogenität in Europa sehr stark. Solche leicht verletzbare Währungszone aufrechtzuerhalten ist in dieser Situation sehr kompliziert und sehr teuer. Das sollten besonders die Deutschen gut wissen. Die Erfahrung mit der Wiedervereinigung Deutschlands, das heißt mit der Währungsunion Deutschlands, und ihren Kosten sind – hoffentlich – noch nicht vergessen.
Über die weitere Entwicklung möchte ich nicht spekulieren. Meiner Einschätzung nach wird der Euro direkt oder nominal nicht scheitern, weil in seine Existenz zu viel politisches Kapital investiert wurde. Das Projekt wird fortgesetzt werden – aber um einen enormen und ganz unnötigen Preis, der durch sehr niedriges Wirtschaftswachstum (oder sogar Stagnation) und hohe Finanztransfers manifestiert wird.
Meine Stellung zu all diesen Problemen ist längst bekannt: die kosmetischen Änderungen und kleine Parameter-Korrekturen werden nicht helfen. Wie ich schon gesagt habe, wir brauchen einen fundamentalen Systemwandel, eine Umgestaltung des herrschenden Paradigmas, in zwei Bereichen:
- die weitgehende Transformation des europäischen wirtschaftlichen und sozialen Systems;
- die Umstrukturierung der europäischen institutionellen Ordnung (anders gesagt, der Form der europäischen Integration).
Wenn ich konkreter sein möchte, dann habe ich acht Maßnahmen, die ergriffen werden sollen:
1. Europa muss sich von der unproduktiven und viel zu paternalistischen sozialen Marktwirtschaftbefreien, die durch die wachsende Rolle der grünen Ideologie noch weiter geschwächt wird.
2. Europa sollte sich damit abfinden, dass die wirtschaftlichen Anpassungsprozesse eine bestimmte Zeit dauern, und dass die ungeduldigen Politiker und Regierungen mit ihrem Aktivismus die Dinge nur verschlechtern. Wir müssen die Vorbedingungen für das Wirtschaftswachstum, die in Deutschland schon lange Zeit als Ordoliberalismus bekannt sind, vorbereiten und nicht das Wirtschaftswachstum durch populistische Staatsinterventionen zu akzelerieren versuchen oder sogar ‚schaffen‘.
3. Europa sollte einen radikalen Plan zur umfassenden Reduzierung der Ausgaben der Staatshaushalte vorbereiten und aufhören, mit den Steuererhöhungen zu flirten. Dieser Plan muss sich vor allem mit den mandatorischen Ausgaben befassen, denn die diskretionären Ausgabenkürzungen langfristig quantitativ mehr oder weniger unbedeutend sind.
4. Europa sollte die schleichende aber ständig wachsende grüne Gesetzgebung zum Stopp bringen. Wir sollten es verhindern, dass die Grünen unsere Wirtschaft in Beschlag nehmen, unter der Fahne so unsinniger Ideen, wie die Doktrin der globalen Erwärmung.
5. Europa sollte die exzessive Zentralisierung, Harmonisierung und Standardisierung des europäischen Kontinents aufhalten und nach einem halben Jahrhundert solcher Maßnahmen die radikale Dezentralisierung, Deregulierung und Desubventionierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft durchführen.
6. Europa sollte den Ländern, die Opfer der Europäischen Währungsunion geworden sind, ermöglichen, auszutreten und zu ihren eigenen Währungsarrangements zurückzukehren.
7. Europa sollte Pläne wie die Fiskalunion vergessen, ganz zu schweigen über antidemokratische Ambitionen, den gesamten Kontinent politisch zu einigen.
8. Europa sollte zur Demokratie zurückkehren, die ausschließlich auf der Ebene der Staaten existieren kann, und nicht auf der Ebene des ganzen Kontinents. Dazu ist die Rückkehr von leider nicht allzu kurzem Ausflug zum Supranationalismus zurück zum Intergovernmentalismus notwendig.
Das alles sind nicht die Pläne, die an den letzten EU-Gipfeln diskutiert wurden. Manche, besonders die soziale Marktwirtschaft und die permanente Vertiefung der europäischen Integration bleiben unantastbar. Man muss sich fragen, wie lange noch? Wir müssen die einheimische Diskussion in europäischen Ländern anfangen, nur dort kann man die Lösung finden. Nicht in Brüssel.
Václav Klaus, Rede beim „Tag des deutschen Familienunternehmens 2012“, Berlin, Hotel Adlon, 15. Juni 2012
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