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Die Frage der Stimmengewichtung ist nicht entscheidend

Deutsche Seiten, 20. 6. 2007


Herr Präsident, Ihr Ministerpräsident und Ihr Außenminister äußern sich optimistisch über die Erfolgsaussichten des EU-Gipfels in Brüssel. Sie scheinen da eher skeptisch zu sein. Zuletzt sprachen Sie von der Gefahr, dass die Gegner eines europäischen Einheitsstaates einen Pyrrhus-Sieg erringen könnten.

Ich fürchte, dass die Ergebnisse, die der EU-Gipfel den Europäern bringt, nicht positiv ausfallen werden. Wahrscheinlich wird es kosmetische Veränderungen des ursprünglichen Texts der EU Verfassung geben, aber das ist nicht genügend.

Sie hatten doch noch vor wenigen Wochen ein Treffen mit Bundeskanzlerin Merkel und Roman Herzog zum Thema der europäischen Verfassung, das sehr gut verlaufen sein soll?

Damals, im April, war das noch anders. Es war mitten in der deutschen Präsidentschaft und Frau Merkel hatte schon drei Monate lang mit Politikern der verschiedenen Länder gesprochen. Dieses Gespräch war schon anders als jenes bei dem Abendessen, das wir mit ihr im Januar in Prag hatten. Sie war viel pragmatischer, sie hatte meiner Meinung nach auch etwas aus all diesen Gesprächen gelernt, und sie war relativ flexibel. Jetzt sehe ich wieder eine Wende, und diese Wende hängt ganz klar mit der Wahl Sarkozys zum französischen Präsidenten zusammen. Das hat eine völlig neue Lage geschaffen.

Auch im Falle eines Sieges der sozialistischen Gegenkandidatin hätte sich die französische Haltung zur Verfassung kaum geändert.

Die Haltung ist eine Sache, persönliche Stärke, man könnte auch von Druck sprechen, ist etwas anderes. Ich halte den neuen französischen Präsidenten in dieser Angelegenheit für sehr ambitioniert.

Sie erwarten also eine Stärkung der deutsch-französischen Achse in der Europäischen Union?

„Achse“ ist mir zu journalistisch, das gehört nicht zu meiner Terminologie. Aber es ist deutlich zu sehen, dass diese beiden Länder stärker zusammenarbeiten.

Welche Meinung haben Sie zu der Debatte mit Polen um die Stimmenverteilung in der Union? Ist das die entscheidende Frage?

Für mich ist das nicht die entscheidende Frage, das muss ich ganz klar und deutlich sagen. Es tut mir sehr leid, dass das manche Leute anders sehen. Die gegenwärtige europäische Debatte hat zwei Dimensionen. Die horizontale Achse ist die Stimmenverteilung zwischen den verschiedenen Ländern Europas. Das ist wichtig, und es ist ganz klar, dass die kleineren Länder Angst haben, marginalisiert zu werden. Aber das ist trotzdem nicht die wichtigste Frage in der europäischen Debatte. Viel wichtiger ist die vertikale Achse, weil sie auf der einen Seite die Freiheit der Individuen betrifft, auf der anderen Seite die Obrigkeit. Ob diese Obrigkeit nun staatlich oder kontinental ist, ist fast irrelevant. Die vertikale Achse ist für mich viel wichtiger, das sage ich als einer, der fünfzig Jahre seines Lebens im Kommunismus verbracht hat. Ich fürchte aber, dass in Brüssel nur über die horizontale Achse diskutiert werden wird, und das wäre ein Verlust. Man kritisiert manchmal demokratische Defizite der EU, aber das reicht nicht aus, man muss es schärfer sagen. Ich rede nicht über demokratische Defizite, ich rede über Freiheit.

Freiheit ist doch nicht nur durch die hohe Regulierungsdichte auf der multinationalen Ebene bedroht, das schafft auch nationales Regelwerk.

Ohne Zweifel kann man darüber diskutieren, ob nationale Regulierungen besser oder schlechter sind als kontinentale. Das kann einmal so oder so sein. Aber die wichtigere Frage für mich ist die Nähe der Bürger zu den Regierenden. Die Hypothese, dass es umso besser sei, je näher die Bürger ihren politischen Repräsentanten sind, hat die Geschichte wohl mehrfach bestätigt. Es ist viel leichter, die Dinge im Kleinen zu ändern als im Großen. Wahlen in Deutschland, in Frankreich und in der Tschechischen Republik können die Dinge wesentlich ändern, bei den EU-Wahlen ist das anders. Die Chancen, die Dinge in der EU zu ändern, sind nahezu aussichtslos. Beharrungsvermögen und Rigidität sind dort fast absolut.

Sie haben vor kurzem geschrieben, dass das parlamentarische Mehrheitsprinzip nicht auf die internationale Ebene und auf multinationale Zusammenschlüsse übertragen werden darf. Sie sind grundsätzlich gegen Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene?

Ja, das ist korrekt. Ich bin zwar pragmatisch genug, um Mehrheitsentscheidungen in untergeordneten Fragen akzeptieren zu können, aber in allen ernsten Fragen bin ich immer für Einstimmigkeit.

Dagegen wird eingewendet, dass eine erweiterte Union ohne Mehrheitsentscheide die politische Lähmung riskiert.

Dieses Argument halte ich nicht für gültig. Ich war auf oft genug europäischen Konferenzen und weiß, dass wir immer einen Kompromiss finden müssen. Mit einer Mehrheitsentscheidung aber kann ein Kompromiss nicht erreicht werden, das ist doch genau das Gegenteil eines Kompromisses, das ist der Verzicht darauf. Wer immer über Mehrheitsentscheidungen spricht, angeblich aus pragmatischen Gründen, ist in Wirklichkeit gegen Kompromisse. Im Verhältnis zwischen Staaten müssen aber Kompromisse gesucht werden, da kann man nicht eine Mehrheit erzwingen.

Selbst bei den Vereinten Nationen gibt es Abstimmungen.

Die Frage ist, ob wir, nämlich die Völker Europas, solche Mehrheitsentscheidungen wirklich wollen und brauchen. Wir brauchen erzwungene Lösungen wirklich nicht. Die Menschen in Europa brauchen Kompromisse und sie akzeptieren sie auch. Abstimmungen brauchen die Spitzenpolitiker und besonders die europäischen Bürokraten, die brauchen schnelle Entscheidungen auf Mehrheitsgrundlage. Aber doch nicht die Leute in Europa. Die brauchen keine Mehrheitsposition zu Nordkorea oder Israel.

Soll die Tschechische Republik hier also nötigenfalls ein Veto einlegen?

Ich dirigiere nicht die Tschechische Republik. Meine Position ist gewiss schärfer als die der Regierung, andererseits aber waren die außenpolitischen Positionen des Präsidenten und der Regierung einander noch nie so nahe wie jetzt, viel näher als in all den Jahren nach der Wende.

Das scheint ja auch bei der Errichtung der Leitzentrale des amerikanischen Raktenabwehrschildes auf tschechischem Territorium der Fall zu sein. Der slowakische Ministerpräsident Fico zum Beispiel meint jedoch, dass darüber nicht allein Washington, Prag und Warschau entscheiden dürften, weil es um die Sicherheit aller gehe.

Hoffentlich leben wir noch in der Ära der unabhängigen Staaten und nicht in einer „post-staatlichen“ Epoche. Wir selbst müssen entscheiden, ob wir diese sicherheits- und außenpolitische Investition machen wollen oder nicht. Das ist nicht die Angelegenheit der Slowakei, wobei ich hinzufügen möchte, dass unsere zwischenstaatlichen Beziehungen perfekt sind. Wenn das System in der Slowakei und in Ungarn errichtet werden würde, hätte ich gewiss nie den Ehrgeiz, den Slowaken und den Ungarn Vorschriften zu machen. Es hat auch niemand in der Tschechischen Republik die Stationierung amerikanischer Truppen in Bulgarien und Rumänien in Frage gestellt. Eine ganz andere Frage ist, ob es besser wäre, das Abwehrsystem multilateral auf Nato-Ebene zu errichten. Das wäre wahrscheinlich besser, aber das entspricht nicht der Realität. Deshalb ist das nun eine tschechische und eine polnische Entscheidung.

Liegt der Tschechischen Republik sonderlich an einem innigen Verhältnis zu Amerika, um ein deutsch-französisches oder deutsch-russisches Übergewicht auszutarieren?

Es geht nicht um ein Gegengewicht zu einer deutsch-französischen oder einer eventuellen deutsch-russischen Zusammenarbeit. Für uns ist das Bündnis mit Amerika das zweite Standbein unserer Außenpolitik, neben jenem der Europäischen Union. Die Amerikaner haben das Sprichwort: „Don´t put all your eggs in one basket“. Für uns ist die transatlantische Partnerschaft gewissermaßen der zweite Korb, neben der EU.

Was sagen Sie zu Äußerungen sozialdemokratischer Politiker in Deutschland, die Äquidistanz zu Washington und Moskau fordern?

Eine solche Haltung ist mir unverständlich. Für mich deutet sie jedoch auf gewisse Ambitionen in Deutschland hin. In einem Land wie der Tschechischen Republik klingt so etwas völlig irrational.

Haben Sie Verständnis für die Befürchtungen, die in Russland in Hinblick auf das Raketenabwehrprogramm geäußert wurden?

Es ist jedenfalls nicht nur ein Spiel, das die Russen spielen. Das haben mir meine Gespräche mit Präsident Putin in Moskau bestätigt. Befürchtungen dieser Art haben ja einen vernünftigen Kern, ich verstehe auch die Befürchtungen der Mehrheit der tschechischen Bürger, man kann sie nicht einfach vom Tisch wischen. Ich kann auch den Russen nicht ihre Befürchtungen verbieten.

Aber Sie könnten sie entkräften…

Ich habe mich bemüht, das den russischen Politikern zu erklären, aber leider hatte ich damit keinen Erfolg.

Karl-Peter Schwarz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.6.2007

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