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Deutsche Seiten, 24. 11. 2005
Die heutige Debatte über die EU, und in dieser Hinsicht über die Zukunft von uns allen, scheint mir einigermaßen seltsam und in jedem Falle sehr verengt und deshalb ungenügend.
Man diskutiert (oder vielleicht, man kann schon sagen, diskutierte) einige Aspekte der europäischen Verfassung, das heißt die EU-Institutionen und ihre eigenen Beziehungen. Der wirkliche Inhalt wird nicht diskutiert. Die Debatte ist auch über die Erweiterung der EU, aber die benützten Argumente finde ich sehr oft protektionistisch oder sogar merkantilistisch. Man erwähnt auch die so genannte Lisabon Agenda, die aber von niemandem ernst gemeint und ernst genommen wird. Diese Agenda, wie sie heute verstanden wird, setzt voraus, dass es möglich ist, einige wirkungsvolle Veränderungen zu dem heutigen, unveränderten europäischen sozio-ökonomischen System schmerzlos anzukleben. Das geht leider nicht. Dieses System ist kohärent, innerlich verbunden, hat klare ideologische Basis, hat viele, gut motivierte und gut organisierte Befürworter, die bereit sind, es zu verteidigen, und hat Gegner, die unorganisiert und nur verstreut sind.
Ich bin überzeugt, dass wir weiter gehen müssen. Wir müssen die tieferen Etagen der heutigen, in Europa herrschenden Ordnung tasten, öffnen und bezweifeln. Vor unseren Augen gibt es sichtbare Probleme. Das Wirtschaftswachstum ist zu langsam. Konkurrenzfähigkeit sinkt. Arbeitslosigkeit ist hoch. Wir erleben „the aging“ (die „Älterung“) der Bevölkerung und in einigen Ländern sogar die Depopulation. Wir sind Zeuge der Pensions- und Gesundheitspflegekrisen. Wir haben – wie wir besonders jetzt in Frankreich sehen – große Schwierigkeiten mit Immigration und Multikulturalismus. Wir fühlen auch das Defizit der Demokratie.
Die Hauptursache aller diesen Probleme sehe ich in dem sozio-ökonomischen System, das heutzutage in Europa herrscht; nicht in einzelnen Fehlern der Politik oder der Politiker, nicht im Mangel an Wissenschaftsfonds in verschiedenen Ländern, nicht in der niedrigen Qualität der europäischen Universitäten, nicht in (– angeblich -) wenig Computern für die begabten Schüller, wie manchmal behauptet wird. Das Problem ist das System selbst.
Dieses relativ freundliche System leider verspricht den Europäern das heutige und immer wachsende Niveau ihres Wohlstands ohne direkte Beziehung zu ihrer eigenen ökonomischen Leistung. Die Europäer haben es geglaubt. Wir wissen aber, dass das langfristig nicht möglich ist. Es ist nicht nur die Frage des demotivierenden Paternalismus. Ich bin überzeugt, dass dieses System – nicht die Globalisierung oder der amerikanische Unilateralismus – auch für die heutige, jede Dynamik blockierende - Rigidität und Unflexibilität der europäischen Wirtschaft verantwortlich ist.
Diese Rigidität und Unflexibilität hat viele Dimensionen, die ich hier heute Abend nicht besprechen möchte. Das wäre zu ambitiös. Ich kann mich nur mit einem Thema befassen, und das Thema, das ich gewählt habe, ist die Beziehung der gemeinsamen europäischen Währung, des Euro, zur heutigen europäischen wirtschaftlichen Realität.
Euro – wie alle anderen institutionellen Gestaltungen – hat seine Vorteile und Nachteile, Beiträge und Verluste, Erträge und Kosten. Jede Münze hat zwei Seiten, auch der Euro. Man sollte in Europa nicht nur über Vorteile und positive Erträge sprechen, wie es so oft der Fall ist, und wie es „politically correct“ sein wird.
Meine allgemeine Kritik des Euro ist relativ bekannt und breit publiziert.%% Heute möchte ich nur 2 Punkte besprechen:
- die Rolle des Euro in der Stärkung der Rigidität der europäischen Wirtschaft;
- die Beziehung zwischen dem Euro und der europäischen, heute nicht existierenden Verfassung.
ad 1.) Die Einführung des Euro in 12 Mitgliedstaaten der EU hat die Transaktionskosten für manche Industrie- und Geschäftsleute und ihre Firmen als auch für viele Touristen verkleinert. Diese beiden Gruppen haben damit ein Geschenk bekommen, aber den Preis zahlen sie direkt nicht. In dieser Hinsicht sind sie „schwarze Passagiere“ (free-riders). Der Preis trotzdem existiert. Die Einführung des Euro hat den Europäern eine wichtige Variable – den Wechselkurs, und eine wichtige Politik – die Geldpolitik (monetary policy) weggenommen. Und das kostet etwas. Das hat den Freiheitsgrad (the degree of freedom) des Systems begrenzt.
Ich muss schnell klarstellen, wie ich das meine. Der Wechselkurs ist eine der wichtigsten Preisen in jeder Wirtschaft und nur in einer stationären Wirtschaft können die Preise konstant bleiben. Das wissen wir alle und das haben wir in der kommunistischen Ära gut verstanden. Den Wechselkurs sehe ich nicht als ein Objekt der Manipulation, besonders nicht in den Händen der Politiker. Ich verteidige keine absichtlichen Abwertungen der Währungen. Ich verteidige nur die Flexibilität des Wechselkurses. Dasselbe gilt für die Geldpolitik. Ich bin kein Befürworter der monetären Masterminding der Wirtschaft, aber die Zinsen und die Geldmenge müssen den ökonomischen Bedingungen im Lande entsprechen. Und diese Bedingungen unterscheiden sich in einzelnen Ländern und bewegen sich unterschiedlich in der Zeit. Sie können nicht uniform und konstant bleiben.
Die Existenz des Euro vergrößert eine wichtige Dimension der Rigidität der europäischen Wirtschaft. So eingeführte Rigidität könnte mit der Flexibilität anderen Variablen kompensiert werden, aber das sehen wir in der Realität nicht. Die Preise und Löhne sind „downward“ inflexibel und die Arbeitskraftsmobilität (labour mobility) ist in Europa auch sehr klein. Die Rigidität wurde vergrössert.
Das Wirtschaftswachstum ist ein Komplexphänomen und ist von vielen internen und externen Faktoren beeinflusst, besonders kurzfristig, aber meine vorläufige Hypothese sagt: die Verlangsamung des Wachstumstempos in fast allen europäischen Ländern in den ersten Jahren dieses Jahrzehntes hat mit dem Euro etwas zu tun. Diese Hypothese sollte man empirisch analysieren und entweder bestätigen oder ablehnen. Ich warte, und freue mich, auf diese Studien.
In jedem Falle braucht Europa Flexibilität und ich bin davon überzeugt, dass wir gerade jetzt notwendige Reformen in dieser Richtung einführen müssen. In Europa sehe ich aber heute keine „Reformneigung“ (propensity to reform). Die Motivation fehlt, oder sind die Kräfte, die das heutige System verteidigen, stärker. Eventuelle Reformen werden keine kurzfristigen Effekte haben und ihre potenziellen Erträge kann man bestimmt nicht in einer Wahlperiode erwarten. Deshalb sind sie für die Politiker so uninteressant. Verschiedene starke und laute rent-seeking Gruppen brauchen keine Veränderung, sie sind mit dem Status quo zufrieden. Reformen würden andere, nicht so gut organisierten Gruppierungen favorisieren. Ich habe Angst, dass die Rigidität und Unflexibilität leider mit uns bleiben werden. Der Euro hat uns nicht geholfen.
ad 2.) Die Währungsunionen waren in der Geschichte immer mit politischen Unionen (und Fiskalunionen) verbunden. Kurzfristig und mittelfristig können sie allein existieren, langfristig aber nicht. Das zu sagen ist mehr als eine unbestätigte Hypothese, das ist eine Lehrbuchwahrheit.
Ich bin ein bekannter Gegner des Supranationalismus in Europa, des Staates Europa, des „ever-closer Europe“, der europäischen politischen Union. Ich weiß auch, dass eine wichtige Gruppe der europäischen Politiker ursprünglich die Idee hatte, die Währungsunion als Instrument für die Schaffung der politischen Union zu benützen. Die Währungsunion war für sie kein Ziel, nur ein Mittel. Die ökonomischen Argumente waren für sie nicht die wichtigsten. Der EZB Präsident Jeane-Claude Trichet hat im Jahre 2004 (in Dublin) dazu gesagt: „We Europeans have been very bold in creating a single currency in the absence of a political federation, a federal government and a federal budget“. Das war – für mich – kein Mut. Die Politiker, die die Geld- und Wechselkurspolitik nicht gut verstehen und als etwas Unwichtiges betrachten, waren „nur“ bereit, die Geld- und Wechselkurspolitik aufzugeben. Das war nicht mutig, das war unverantwortlich. Sie waren nicht bereit, ihre Fiskalpolitik irgendwohin zu übergeben, was aber Konsequenzen hat, die sie in Betracht nehmen sollten.
Dieselben Politiker wollten die Idee der politischen Union auch mit der Hilfe der europäischen Verfassung durchsetzen. Wie wir alle wissen, existiert die Verfassung – nach Frankreichs- und Hollandsvolksabstimmungen - nicht und wir müssen die seriöse Frage stellen: braucht die Währungsunion die europäische Verfassung? Und damit die politische Union? Kurzfristig wahrscheinlich nicht, aber langfristig kann ich mir nicht vorstellen, die Währungsunion ohne die politische Union zu behalten. (Man könnte die Frage schwächer formulieren, z.B. kann solche Währungsunion größere Erträge als Kosten haben?). Diese seriösen Fragen sollten in Europa ernsthaft diskutiert werden.
Ich bin nicht sicher, dass die Antwort Ja zu diesen Fragen korrekt ist. Die Prognosen (oder vielleicht Wünsche), dass die gemeinsame Währung den Konjunkturzyklus (business cycle) harmonisieren wird und dass dadurch die Notwendigkeit der unterschiedlichen Geldpolitiken und Wechselkursschwankungen senken wird, wurden nicht erfüllt. Es wurde überzeugend demonstriert, dass die Politik der Europäischen Zentralbank für einige Länder (Italien, Frankreich, Deutschland) zu streng ist. Für andere Länder (Irland, oder einige skandinavische Länder) im Gegenteil ist sie zu locker.
Man kann ein Gesetz formulieren: Die langfristige Existenz des Euro (und besonders die Qualität seines Funktionierens) braucht entweder hohe Arbeitskraftsmobilität und flexible Preise und Löhne (die aber in Europa nicht existieren), oder größere und tiefere politische Integration. Das ist nicht mein Wunsch oder meine Empfehlung, nur meine Warnung.
Die höhere Stufe der politischen Integration hat in diesem Sinne zwei Hauptaufgaben:
- die einheimischen Wirtschaftspolitiken zu disziplinieren (das war die ursprüngliche Idee des Stabilitätspaktes);
- die extensive Einkommensumverteilung im Falle des unterschiedlichen Wirtschaftswachstums in verschiedenen Ländern zu ermöglichen.
Das Los des Stabilitätspaktes ist bekannt. Die Realität hat den Mangel an der Wille der europäischen Politiker zu der gemeinsamen Haushaltsdisziplin ganz klar gezeigt. Die Relativisierung des Stabilitätspaktes in den letzten Jahren war deshalb eine starke Herde der europäischen politischen Integration und der europäischen Währungsunion.
Auch die Volksabstimmungen in Frankreich und Holland sind eine solche Herde gewesen. Das Nein dort hat ohne Zweifel die politische Integration der EU verlangsamt. Es hat den Unwillen der Leute zu dem ambitiösen und ingenieurischen Projekt der europäischen politischen Eliten entdeckt. Es war auch ein klares Nein zu weiteren europäischen Umverteilungsprozessen, die aber in jeder politischen Union und Währungsunion notwendig sind. Das Europrojekt hat in sich die Ambition, die spontanen Marktprozesse durch die politische Umverteilungsmechanismen zu ersetzen. Wie wir sehen, ist es nicht so einfach. Wenn die differenzierte Politik nicht möglich ist, muss die Solidarität kommen. Sie wurde aber in den Volksabstimmungen nicht „ratifiziert“.
Die politischen Voraussetzungen des Euro sind langfristig primär, nicht sekundär. Die europäische Verfassung war in dieser Hinsicht die implizite Voraussetzung für das positive langfristige Funktionieren der europäischen Währungsunion.
Vaclav Klaus, Vortrag gehalten in der Österreichischen Nationalbank, Wien, 24. November 2005
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