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Es ist Zeit, der EU eine solidere Grundlage zu geben

Deutsche Seiten, 30. 8. 2005

Die Anregung des Rates der Europäischen Union, über die Zukunft der EU nachzudenken, soll ernst genommen werden. Der bisherige EU-Integrationsprozess ist mit den ablehnenden Voten gegen die EU-Verfassung in eine Sackgasse geraten, denn die bis anhin betriebene Zentralisierung entsprach eher den Vorstellungen einer selbsternannten Elite als den Wünschen der Bürger. Eine stabile Grundlage der EU kann sich aus der Kooperation souveräner Staaten ohne Zentralismus ergeben.

Der Rat der Europäischen Union hat die Politiker kürzlich dazu eingeladen, die sogenannte Reflexions-Periode zu nutzen, um ihre Ansichten zum Weitergang der europäischen Integration vorzubringen. Diese Einladung sollte man annehmen und ernst nehmen, denn die Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses während der letzten zwei Jahrzehnte liefert viele gute Gründe dazu. Die Integration ist zwar immer graduell, Schritt um Schritt, vorangebracht worden, aber insgesamt hat diese Entwicklung die ehemals zwischenstaatliche Natur der Beziehungen zwischen den europäischen Ländern doch Weitgehend und systematisch untergraben. Es wäre trügerisch, davon auszugehen, dass diese Aufweichung nicht stattgefunden habe.

Integration im Sinne der politischen Eliten

Diese Veränderungen, die in den 1980er Jahren ihren Anfang genommen haben, waren hauptsächlich mit Namen wie Altiero Spinelli und Jacques Delors verbunden – und damit mit den Namen Francois Mitterand und Helmut Kohl, die im Hintergrund standen und ihre schützende hand über sie hielten. Die Entwicklungen der EU – Integration – für den „normalen“ Berger kaum sichtbar und verständlich – sind in den letzten zwei Jahrzehnten oft kritisiert worden, aber die Kritikerstellten immer eine Minderheitsmeinug dar, in einigen Ländern galten sie gar als randständige Gruppe. Kritische Argumente fanden deshalb bei den relevanten Entscheidungsträgern im Integrationsprozess – bei den politischen Eliten und ihren Gefährten – kein Gehör. Sie haben sich immer als eine unfehlbare Avantgarde betrachtet, die von der Geschichte auserwählt ist, die orientierungslosen Massen gewöhnlicher Leute zu führen, da diese selber ja nicht wissen, was für sie gut ist.

Die politischen Eliten wussten und wissen sehr genau, dass eine Verschiebung der Entscheidungsgewalt vom Nationalstaat auf die supranationale Ebene traditionelle demokratische Mechanismen schwächt, da diese untrennbar mit den Institutionen des Nationalstaates verbunden sind. Dadurch vergrössern sie ihre eigenen Entscheidungsbefugnisse radikal, und das ist auch der Grund, warum sie diesen Prozess in der Vergangenheit vorangetrieben haben und ihn weiter vorantreiben. Die gelegentlich abgehaltenen Referenden in verschiedenen EU – Ländern legen den Schluss nah, dass „gewöhnliche“ Leute die Dinge etwas anders sehen. Zu denken wäre etwa an das sehr knappe und deshalb wenig überzeugende französische ja Sofie an das dänische Nein zum Maastricht-Vertrag im Jahr 1992, an die Ablehnung des Vertrages von Nizza 2001 durch die Iren und an das schwedische Nein zum Euro 2003.

Wie wir wissen, wurden all diese Signale nicht ernst genommen, nichts hat sich geändert – bis zum diesjährigen französischen und niederländischen nein zur EU – Verfassung. Dieses Mal haben die Volksentscheide gewirkt. Das Ergebnis dieser zwei Referenden hat zum Zusammenbruch des Kartenhauses geführt, das in der EU über die letzten 20 Jahre hinweg ohne solide Fundamente konstruiert worden ist, vor allem auch ohne wirkliche Beteiligung jener, die darin leben sollten: die Bürger der europäischen Länder. Das Europäische Haus war nicht für sie gebaut. Es war gebaut für jene, die davon profitieren sollten, das heisst für die politischen Eliten Europas und ihre Verbündeten. Einige von uns Waren überzeugt, dass diese Diskrepanz früher oder später ans Licht kommen musste, die Frage war nur, wann und aus welchem Anlass es so weit sein werde.

Zusammenbruch des Kartenhauses

Für einige erwartet, für andere unerwartet, waren es die Entscheide über die europäische Verfassung, die den endgültigen Zusammenbruch dieser Art von Integrationsprojekt bewirkten, was nicht zwangsläufig so hätte sein müssen. Jeder andere Stoss am europäischen Kartenhaus hätte dieselbe Wirkung haben können. Es hätte also geradeso gut auch die gleichzeitig vorangetriebene Vertiefung und Verbreiterung der EU sein können, die unabhängig von der Verfassung auf den Weg gebracht worden war. Man denke etwa an den möglichen Beitritt von Ländern wie der Türkei. Oder es hätte vielleicht die wirtschaftliche Stagnation der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts sein können bzw. der damit verbundene Unwille einiger Länder, ihren ärmeren Nachbarn im bisher gepflegten Rahmen weiterhin solidarisch unter die Arme zu greifen. Es hätte schliesslich auch der unverdaute, unnatürliche und deshalb künstliche Multikulturalismus – dessen Grundeinheit die ethnische, kulturelle Gruppe ist, nicht der einzelne Bürger – sein können und die damit einhergehende Massenimmigration, die den historischen Zusammenhalt der europäischen Staaten zu sprengen begonnen hätte.

Die zwei kürzlich abgehaltenen Referenden über die Verfassung bedeuten, dass der Prozess der künstlichen Schaffung einer einzigen europäischen Nation (und Kultur) mehr oder weniger an ein Ende gekommen ist. Keine neue europäische Verfassungsversammlung – insbesondere wenn sie administrativ ins Leben gerufen wird und wieder dominiert ist durch die Brüsseler Bürokratie – könnte entsprechende Ziele wieder zum Leben erwecken. Alle EU-Länder werden eine grundlegende Diskussion über diese Angelegenheit in Gang setzen müssen, und erst danach mag es sinnvoll sein, weitere Referenden abzuhalten. Nur dann wird es möglich sein, allenfalls mit der Niederschrift eines neuen, eines anderen „europäischen“ Dokument zu beginnen.

Wir müssen allerdings zuerst deutlich machen, welche Art von Europa wir wollen. In klaren Worten müssen wir unmissverständlich sagen, wie die Zukunft Europas aussehen soll und welche Kosten und Vorteile solch eine Lösung hätte, wenn sie umgesetzt würde. Es gibt mehrere unantastbare Prinzipien, die zu befolgen sind. Man soll sich davor hüten, sich zu verschliessen oder die spontane Integration sowie Globalisierungsvorgänge zu verhindern. Man muss verhindern, dass eine kostspielige Einförmigkeit, Vereinheitlichung, Harmonisierung und Zentralisierung Bestandteil der künftigen Ordnung sein werden, und es soll auch keine „europäische“ Ideologie vorgeschrieben werden. Der Markt für Ideen muss offen bleiben für alle politischen Entwicklungen auf dem Links- Rechts- Spektrum der einzelnen europäischen Länder.

Ein Verfassungsvertrag ist notwendig

Wir werden auch entscheiden müssen, ob es notwendig sein wird, dieses neue Konzept von Europa in einem Dokument explizit zu „verfassen“. Für ein solches Verfassungsdokument spricht das Argument, dass dies helfen würde, die Grenzen des Machbaren festzulegen und so eine schleichende Vereinigung und Zentralisierung des europäischen Kontinents zu verhindern. Diese „schleichenden“ Prozesse waren ja charakteristisch für die zurückliegenden Jahrzehnte, als es auf der einen Seite einen unbeschränkten Aktivismus der Europhilen gab und auf der anderen Seite die untätige Sorglosigkeit der Mehrheit der Europäer, die glaubten, dass keine dieser Angelegenheiten sie tatsächlich etwas anginge. Einige unter ihnen glaubten wohl gar, dass alles, was „europäisch“ ist, an sich besser sei als das, was „einheimisch“ ist; aber sie unterschätzten damit den demokratischen Aspekt des Problems auf tragische Weise.

Es gibt zweifellos auch die Ansicht, dass ein solches Dokument nicht notwendig sei, sondern dass im Gegenteil ein wenig „Anarchie“ oder genauer: Spontaneität der natürlichen Ordnung und der unsichtbaren Hand nicht schaden könne und das ein nicht direkt kontrollierter oder organisierter Prozess zu besseren innereuropäischen Beziehungen führen werde als alles, was Politiker zu erreichen vermögen – und mögen diese noch so gute Absichten haben. Dies sind jedenfalls Argumente, die gegen die Meinung vorgebracht werden, eine Verfassung auf der Ebene der EU sei notwendig.

Ich glaube auch an die Stärke dieser spontanen menschlichen Interaktionen, aber gleichzeitig denke ich, dass die Konstruktivisten jeglicher Couleur uns nicht in Ruhe lassen werden und dass man „ihrem“ Konstruktivismus (ich beziehe mich auf Leute Wie Giscard d´Estaing, Giuliano Amato oder Jean-Luc Dehaene) entgegentreten muss – und zwar mit einem Konstruktivismus der europäischen Mehrheit, die kein leeres Europa-Gehabe will, keine massive Zentralisierung des Kontinents, keine zunehmende Bürokratisierung ihres Lebens, und die auch nicht möchte, dass Entscheidungen weit weg von zu Hause getroffen werden, fern von einer richtigen „Überwachung“ durch jene, die mit den Entscheiden zu leben haben. Diese europäische Mehrheit zielt nicht darauf ab, weiterhin alles auf unproduktive Weiser auf dieselbe Grösse zuzuschneiden, sie zielt nicht auf eine weitere Einschränkung menschlicher Freiheit ab. Deshalb wird früher oder später ein neues Verfassungsdokument geschaffen werden müssen.

Abschied vom „Europäischen Staat“

Es kann kein Dokument sein, das ausschliesslich auf die Zukunft ausgerichtet ist und das alles Vergangene als sakrosankt hinnimmt. Ihm muss eine wahrhaft kritische Bestandesaufnahme der europäischen Integration in den letzten fünfzig Jahren vorausgehen die bisher nicht unternommen worden ist. Das Dokument kann nicht auf die Anerkennung des Status quo abstellen oder auf eine mögliche Verlangsamung weiterer Vereinigungsschritte. Es muss beginnen mit dem Abschied von ziemlich vielem, das in den letzten zwei Jahrzehnten geschaffen worden ist. Es muss darum gehen, ein neues Gleichgewicht zwischen Freiheit und Dirigismus zu finden, zwischen Privatem und Öffentlichem, dem Unregulierten und dem Regulierten, dem Einheimischen und dem Internationalen, dem Nachbarschaftlichen und dem Supranationalen, dem Nationalen und dem Europäischen.

Auf jeden Fall muss die Idee der Schaffung eines „Europäischen Staates“ aufgegeben werden, die uns in den letzten Jahren fortwährend nahegelegt wurde. Obwohl es einige nicht zugeben wollen (vielleicht nicht einmal gegen wollen (vielleicht nicht einmal gegenüber sich selbst), war diese Idee der grundlegende konzeptionelle Leitfaden hinter dem Text der abgelehnten europäischen Verfassung. Wie ich anderswo dargelegt habe, war es unmöglich, dies einfach zu verbergen, indem das Wort „fédéral“ im Text der Verfassung durch das Wort „communitaire“ ersetzt wurde. Es gibt allerdings noch ein weiteres Problem in diesem Zusammenhand. Da wir alle, wie ich annehme, gegen einen „nationalen“ Nationalismus sind, sollten wir nicht damit beginnen, einen „europäischen“ Nationalismus zu errichten. Wir brauchen keinerlei Art von Nationalismus. Wir brauchen ein politisches System der liberalen Demokratie, die eine authentische Bürgerschaft voraussetzt, verbunden mit der natürlichen Loyalität der Menschen gegenüber ihrer eigenen Nation und mit einem elementaren Gefühl nationaler Identität.

Gründung einer neuen Organisation

Ich bin überzeugt, dass es das Gebot der Stunde ist, die Zukunft der europäischen Integration auf eine grundlegend andere Art und Weise zu entwerfen, als dies bisher getan wurde. Wir sollten die Organisation Europäischer Staaten (OES) gründen, deren Mitglieder die einzelnen europäischen Staaten sind – nicht die Bürger dieser Staaten direkt, wie es in der europäischen Verfassung vorgeschlagen wird. Es wird deshalb notwendig sein, Begriffe wie die „europäische Bürgerschaft“ aufzugeben. Die Mitgliedschaft in der OES darf nicht durch ideologische Ziele motiviert sein, sondern nur durch einen gemeinsamen Glauben an die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, in einigen Bereichen zusammenzuarbeiten, dies in gemeinsamem Interesse und zum gegenseitigen Vorteil. Der Mechanismus der Entscheidungsfindung muss einstimming sein, zumindest in allen wichtigen Bereichen.

Alles andere ist sekundär und folgt in vieler Hinsicht aus der primären Abgrenzung dessen, was das eigentliche Wesen der europäischen Integration ausmacht. Diese Abgrenzung muss jedoch hier und heute geklärt werden. Die Gelegenheit, die sich nach der doppelten Ablehnung des bisherigen Kurses der europäischen Integration durch die Bürger zweier Gründerländer ergeben hat, wird nicht so rasch wiederkommen.

Václav Klaus, Neue Zürcher Zeitung, 30.8.2005

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