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Europäische Währungsunion - ihre ordnungspolitischen und fiskalpolitischen Konsequenzen

Deutsche Seiten, 28. 8. 1996

Im vorigen Jahr gab ich hier in Alpbach bei meinem Vortrag mit dem Thema „Erweiterung der EU und die europäischen Reformstaaten“ ein unvorsichtiges Versprechen, daß ich dieses Jahr das Thema der Europäischen Währungsunion behandeln werde. Ich wollte mich deswegen nicht - als Repräsentant eines Nicht-Mitgliedstaates - in ein allzu empfindliches politisches Problem einmischen. Ich sehe aber, daß die politische Empfindlichkeit dieses Problems im Verlauf des Jahres überhaupt nicht abgebaut wurde.

Die Europäische Währungsunion - als ein deutlich politisches, und deswegen nicht ein rein ökonomisches Projekt - wird zur Zeit zu einem dominanten politischen Ziel des europäischen Integrationsprozesses und es wird als solches noch lange Zeit bleiben. Es ist zwar viel mehr das politische Ziel der Politiker als das politische Ziel der Bürger der einzelnen europäischen Länder, aber weil wir in der Ära der indirekten Vertretungsdemokratie leben, ist dieser Unterschied aus der Sicht der Entscheidungsprozesse nicht ganz so wichtig. In jedem Fall kann man sagen, daß die Entscheidung über die Europäische Währungsunion die wichtigste europäische ökonomische Entscheidung seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist. Trotzdem bin ich der Meinung, daß das Problem der europäischen Währungsunifikation - gerade dank der Tatsache, daß es sich vorwiegend um ein politisches Projekt handelt - trivialisiert wird; daß ihre unbestrittenen (und durch niemanden bezweifelten) Vorteile überschätzt werden und umgekehrt, daß eben ihre genauso unbestrittenen Nachteile unterschätzt oder gar gemieden werden.

Es ist im Grunde genommen klar, daß die Währungsunion einen Vorteil darstellt - aber nur für den, der sich bewegt, nicht für den, der gar nicht oder wenig unterwegs ist, und auch nicht für den, der in seinen Aktivitäten mit dem Ausmaß eines Landes auskommt. Es ist ein Vorteil, sich in einem Währungsraum zu bewegen, nicht alle paar hundert Kilometer Geld wechseln zu müssen (für Nicht-Nulltransaktionskosten), kein Objekt der unerwarteten Abwertungen oder Aufwertungen zu sein. Es ist aber nichts kostenlos auf der Welt, und unsere Aufgabe ist es, festzustellen, ob die Effekte der Währungsintegration für die Bürger ihre Kosten übersteigen (oder umgekehrt), und in welchem Zeitraum das sein wird (anders gesagt, ob die Kosten und Effekte in einer Zeitübereinstimmung verlaufen werden).

Das sind keine trivialen Fragen, das sind keine Fragen eines Euroskeptikers. Das sind Fragen eines verantwortlichen Politikers, und ich würde noch hinzufügen, eines Politikers, der den Großteil seines Lebens im kommunistischen System erlebte, dessen wichtigste strukturelle Charakteristik weder Zentralplanung noch Staatseigentum, noch die führende Rolle der kommunistischen Partei waren, sondern die Priorität der Politik vor der Ökonomik, beziehungsweise die nichtbescheidene und unbeugsame Idee, daß es möglich ist, daß die Politik die Ökonomik diktiert. Das sind Fragen eines Politikers, der weiß, daß die europäische Integration unser aller Schicksal ist, und der nach Möglichkeiten sucht, es so einzurichten, damit dieses Schicksal das Beste ist. Der dazu noch voraussetzt, daß sein Land in der absehbaren Zeit zum vollberechtigten und vollwertigen Mitglied der Europäischen Union wird, und daß es dort keine Randrolle wird spielen wollen.

Im Prinzip geht es um nichts mehr oder weniger als darum, ob Europa heutzutage ein „optimaler Währungsraum“ ist oder nicht (nach der Standardsdefinition von Mundell aus dem Jahre 1961), und sollte es heute nicht sein, ob die ex-ante durchgeführte Währungsunifikation zur Bildung solch eines Raumes beiträgt und mit welchen Kosten.

Zweifellos hat die Europäische Union immer noch eine heterogene Teilnehmerschaft, das heißt, daß die EU mit ihren fünfzehn Mitgliedern kein optimaler Währungsraum ist. Diese Heterogenität ist kein Hindernis für die niedrigeren Formen der wirtschaftlichen Integration (wie zum Beispiel der gemeinsame Markt oder die Zollunion), aber es ist ein Hindernis für die Entstehung und das konfliktlose Funktionieren der Währungsunion. Davon konnten wir uns sehr anschaulich bei dem Zerfall der tschechoslowakischen Währungsunion überzeugen, oder umgekehrt bei der ziemlich schnellen politisch motivierten Währungsunifikation Deutschlands. (Sollten wir noch weiter in die Geschichte schauen, könnten wir z.B. auch darüber spekulieren, ob es vielleicht nicht gerade die Währungsunifikation Italiens nach dem Jahre 1861 war, die zu dem Einfrieren der existierenden ökonomischen Ungleichheit zwischen dem italienischen Norden und Süden beigetragen hat. Dazu inspiriert mich die unlängst publizierte Erwägung, ob die ehemalige DDR nicht zu einem neuen Mezzogiorno wird.) Gleichzeitg muß man in Betracht nehmen, daß es dank den absichtlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu einem bestimmten Homogenisierungsprozeß kommt. Die ursprüngliche europäische Sechs ist sicher homogener als die heutige Fünfzehn und als die künftige Zwanzig oder Siebenundzwanzig, sodaß eine Untermenge der EU-Länder zweifellos schon heute ein optimaler Währungsraum ist.

Was sind die Ursachen der heute existierenden strukturellen Heterogenität der europäischen Länder, was werden ihre Folgen für die künftige Währungsunion sein, und was könnte ihre ungünstigen Folgen minimalisieren?

1. Es gibt einige Ursachen für die Heterogenität der ökonomischen Struktur im heutigen Europa.

Auf der einen Seite handelt es sich um eine natürliche ( auch durch Jahrhunderte der menschlichen Tätigkeit mitgestaltete) Ausstattung der Länder mit einzelnen Produktionsfaktoren, inklusive solche Größen wie das Wetter, Rohstoffbasis, Zutritt ans Meer usw. Diese Ausstattung unterscheidet in Europa die einzelnen Länder zweifellos stark untereinander, und dadurch unterscheiden sich auch die Folgen der exogenen Veränderungen (Schocks) auf diese oder jene Wirtschaft. Die existierenden Unterschiede, die ich hier nicht analysieren möchte (und kann), würde ich aber nicht unterschätzen. Ihre Existenz dokumentiert übrigens tagtäglich die entstehende Spannung auch innerhalb einiger Länder der Europäischen Union (z. B. der schon erwähnte Norden und Süden Italiens). Und es wird auch so bleiben, obwohl das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Ländern selbst unendlich größer ist als die künftige Solidarität unter den einzelnen Ländern je sein wird. Ich möchte bemerken, daß die Abschaffung dieses Problems nicht den geringsten Zusammenhang mit dem Erfüllen der sogenannten Maastrichtkriterien hat. Die betreffen es unmittelbar überhaupt nicht.

Das zweite europäische Spezifikum (z.B. den Vereinigten Staaten gegenüber) sind die ziemlich unterschiedlichen „nationalen Neigungen“, Traditionen, Gewohnheiten, die sich angesichts ihrer langjährigen historischen Verankerung nur schwierig ändern lassen, beziehungsweise deren Veränderung während eines kurzen oder mittleren Zeitraumes nicht durchführbar ist. (Eine ganz andere Sache ist, ob diese Veränderung wünschenswert ist). Man könnte eine Unmenge an nationalen Besonderheiten nennen, und obwohl es bestimmte Unterschiede auch im Inneren der heutigen Länder gibt (und umgekehrt auch manche Ähnlichkeiten unter den Ländern), die Verschiedenheiten der einzelnen Länder werden die Träger der künftigen Konflikte sein. Es läßt sich deshalb voraussetzen, daß der Konflikt durch die Größe und die Dauer der Transfers aus den reicheren in die ärmeren Länder und aus den schnell wachsenden in die stagnierenden Länder die permanente Charakteristik der Währungsunion darstellen wird.

Das dritte Spezifikum ist etwas, was zwar zu ändern ist, aber was momentan die gleiche Gegebenheit ist wie Wetter oder Erdgasvorräte (für einen Ökonomen ist das eine prädeterminierte Grösse), und das ist die dominierende Weltanschauung und die daraus resultierende konkrete Wirtschaftspolitik, die Wahl zwischen den Konfliktzielen und dem Instrumentarium der verwendeten Wirtschaftspolitik. Auch in diesem Sinn ist Europa nicht einheitlich, es ist zu keinem „end of ideology“ gekommen, das z.B. von F. Fukuyama prophezeit wurde. Es gibt Länder mit rechtsorientierten und auch mit linksorientierten Regierungen, der politische Kampf innerhalb der Länder ist genauso unversöhnlich wie immer in der Vergangenheit, und ich bin mir sicher, daß es auch in der Zukunft nie anders sein wird. Der Traum einiger europäischer Politiker, daß diese Streitereien in der übernationalen Ebene absterben werden, und daß dann irgendeine nichtpolitische oder überpolitische Rationalität herrschen wird, das ist der Ausdruck einer sehr konkreten und sehr bekannten Ideologie. Einer Ideologie, die ich nicht teile. Prioritäten und Präferenzen der einzelnen Länder unterscheiden sich heutzutage voneinander, und daran wird die Zukunft nichts ändern.

2. Dies sind - nur sehr kurz angedeutet - Ausgangsvoraussetzungen für jede seriöse Diskussion über die europäische Währungsunion. Die Einführung der einheitlichen Währung, beziehungsweise die Verschiebung einer ökonomischen Grösse aus der Kategorie der Veränderlichen in die Kategorie der Konstanten (durch Eliminierung des Wechselkurses) wird bedeuten

- eine ausdrücklich grössere Ungleichmäßigkeit der Folgen der Schwankungen der Weltwirtschaft (aber auch aller weiterer exogener Einflüsse) für die einzelnen Länder ohne die Möglichkeit der kurz- oder mittelfristigen Anpassung auf nominaler Ebene. Wie wir alle gut wissen, beinhalten die Konvergenzkriterien von Maastricht nicht das Tempo des ökonomischen Wachstums und auch nicht die Dynamik des Produktes, der Löhne und der Beschäftigung . Diese Größen werden in den einzelnen Ländern mit einem ziemlich differenzierten Tempo wachsen. Wesentlich ist, daß diese unterschiedliche Entwicklung nicht zu den Änderungen des Wechselkurses führen wird, wie bisher;

- bei der politischen Nichttragfähigkeit des Anwachsens der Unterschiede auf ökonomischem Niveau zwischen den einzelnen Ländern wird es notwendig zur Stärkung der zwischenstaatlichen Transferzahlungen kommen, dadurch auch zu der Zentralisierung der Staatshaushalte ins Zentrum der Europäischen Union. Weil die Union nicht bereit sein wird, außerordentliche Komplikationen jedes einzelnen Mitglieds zuzulassen, kommt es zum weiteren Wachstum des Solidarcharakters der Union. Dank diesem wird die Autonomie der nationalen Fiskalpolitik niedriger werden, auch die Entscheidungskraft der einzelnen Länder und der nationalen Politik überhaupt. Einige wünschen das, und manche wieder nicht, was legitim ist. Nichtlegitim ist, dieses grundsätzliche Problem zu verschweigen. (Nehmen wir nur ein einziges, leicht vorstellbares Beispiel. Das Land A wird ein riesengroßes Defizit des Staatsbudgets haben. Wird das Land B die Änderung der Budgetspolitik des Landes A initiieren? Wird es einen Vorschlag für einen Eingriff von außen geben? Wird es das Recht haben, diesen Eingriff durchzusetzen?);

- durch die Veränderung der Entscheidungskräfte zwischen einzelnen Ländern und der Union kommt es zur Abweichung in der Struktur der politischen Institutionen, was eine deutliche ideologische Veränderung von der traditionellen liberalen (kontraktuaren) Position zu mehr konstruktivistischen (politischen) Lösungen bedeuten wird. Es ist fast eine Lehrbuchwahrheit, daß es mit wachsender Entfernung des Ortes, an dem entschieden wird, vom einzelnen Bürger zu einer Abschwächung des demokratischen Charakters des Entscheidens kommt. Davon zeugen übrigens die häufigen Diskussionen über das europäische „Defizit an Demokratie“. Auch wenn der Terminus Subsidiarität in meinen Wortschatz nicht gehört, gibt es keine Zweifel, daß es durch die Realisierung der Währungsunion zu einer bedeutenden Verschiebung der Entscheidungsebenen nach oben kommt. Ich weiß nicht, ob das alle wünschen.

3. Die Minimierung der ungünstigen Folgen der Einführung der Währungsunion in den nichthomogenen Raum ist von zwei Sachen abhängig: von dem Ausmaß der Flexibilität zweier ökonomischer Schlüsselgrössen - der Mobilität oder der Rigidität der Produktionsfaktoren und ihrer Preise und von dem Ausmaß der autentischen europäischen Solidarität.

Die Währungsunion wird desto einfacher sein, je grösser die Stufe der Mobilität der grundsätzlichen Produktionsfaktoren sein wird, also der Arbeit und des Kapitals (obwohl auch hier keine Symetrie ist - „greater labour mobility is a cementing force of the union, while greater capital mobility is not“, P. Bolton and others, Economic Theories of the Break - Up and Integration of Nations, Brussels, ECARE, September 1995). Die Mobilität der Arbeitskräfte ist in Europa - im Vergleich mit Amerika - auf einem unendlich niedrigeren Niveau, und wenn ich mich nicht irre, ist keiner in Europa an ihrer Erhöhung interessiert, wenn ich über die Mobilität zwischen den Ländern spreche. Ich nehme an, daß sich niemand wünscht, das es zu einer so genannten „Abstimmung mit Beinen“ kommt, daß das weniger erfolgreiche Land entvölkert und das erfolgreichere gefüllt wird. Soll es dazu nicht kommen, muß entweder die idylische Ära des ganz gleichmäßigen, harmonischen ökonomischen Wachstums kommen, oder es muß die künstliche Begleichung der Unterschiede durch Dotationen von den Erfolgreicheren zu den weniger Erfolgreichen folgen.

(Die anwachsende Mobilität des Kapitals verstärkt dieses Problem, denn das Kapital verfolgt den Erfolg.)

Dies alles wird die Frage der Preisrigidität ergänzen. Die Währungsunion wird desto komplizierter sein, je rigider die Preise der Produktionsfaktoren sein werden, besonders der Preis der Arbeit. Wir wissen, daß der Preis der Arbeit rigide ist. Es wäre notwendig, daß die „downward wage rigidity“ eliminiert würde, daß es - wenn es nötig ist - sogar zur Senkung des nominalen Lohnes kommt. Ich wiederhole noch einmal, daß der Mechanismus der Bewegung der Wechselkurse nicht zur Verfügung stehen wird. Weil ich keine Erhöhung der Lohnflexibilität erwarte, wird es zu markanten fiskalen Verschiebungen kommen müssen.

Und so kommen wir zu meiner letzten Erwägung. Immer wieder kehrt die Frage der fiskalen Verschiebungen und der europäischen Solidarität zurück. Der sogenannte Kohäsionsfonds, der durch den Maastrichtsvertrag gegründet wurde, stellt ein bestimmtes Vorzeichen des künftigen europäischen Fiskalmechanismus dar, nur mit dem Unterschied, daß es sich um viel grössere Summen handeln wird. Jeder Politiker weiß, daß eine einprozentige Erhöhung oder Herabsetzung des Anteils des Staatshaushaltes an dem Brutto-Sozialprodukt zum gelegenheitlichen Regierungssturz führt oder zu der Veränderung des Wahlergebnisses. Die Vorstellung, daß die europäischen Steuern und die europäischen Transferzahlungen irgendwie „ausgeklammert werden“, daß es gar nicht um diese gehen wird, daß sie außerhalb der politischen Standardskämpfe bleiben, zeigt sich für mich als ganz unrealistisch und gefährlich in einem. Die Beziehung des Individuums und der beliebigen überindividuellen Struktur ist das Alpha und das Omega der politischen Diskussionen in jeder demokratischen Gesellschaft, und so muß es auch im künftigen Europa sein. Als Politiker kann ich mir nur wünschen, daß es etwas gibt, was ich vor „der Klammer“ entscheiden kann, als Bürger wünsche ich mir aber, daß es von diesem möglichst wenig gibt.

Ich habe damit angefangen, daß ich die Entstehung der europäischen Währungsunion für die größte europäische Nachkriegsveränderung halte, den Kolaps des Kommunismus im Osten Europas nicht ausgenommen. Es ist notwendig, darüber ernsthaft zu diskutieren. Nicht nur über die Probleme der Ziellösung, sondern auch über die Probleme des Übergangs von einem System zu dem anderen. Es ist gut, daß uns das diesjährige Europäische Forum Alpbach solch eine außerordentliche Gelegenheit dazu bietet.

Václav Klaus, Alpbach, 28. August 1996

(Rede des Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik bei „Europäisches Forum Alpbach 1996“)

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