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Deutsche Seiten, 28. 7. 2007
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für Ihre Einladung. Es ist für mich wirklich ein Vergnügen an dieser Festakademie hier, im wunderschönen Salzburg, teilnehmen zu dürfen. Es ist für mich eine Ehre das Geburtsfest des Herbert-Batliner-Europainstituts zusammen mit Ihnen zu feiern und, nicht zuletzt, es ist für mich eine besondere Freude an einer Tagung anwesend zu sein, die mit dem Namen von meinem langjährigen politischen Partner und guten Freund, Präsidenten Thomas Klestil, verbunden ist.
Wir leben in Mitteleuropa und die Worte Mitteleuropa, Klestil und Salzburg passen sehr gut zusammen. Präsident Klestil initiierte im Jahre 1993 hier in Salzburg das erste Treffen der mitteleuropäischen Präsidenten. Damit wurde eine Tradition eingeleitet, die bis heute existiert und gut funktioniert. Ich hatte das Glück, im Jahre 2003, als Präsident Klestil hier in Salzburg dieses Treffen zum letzten Mal organisierte, anwesend zu sein. Ich erinnere mich daran, dass er damals noch sehr aktiv war und dass er das ganze Treffen perfekt dirigierte. Die mitteleuropäische Zusammenarbeit und Solidarität haben für ihn eine wichtige Rolle gespielt. Ich möchte hier heute nur bestätigen, dass die „Stafette“ weiter geht. Im Mai dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit ein solches Treffen in Brünn selbst zu organisieren und ich kann sagen, dass die Atmosphäre dort sehr positiv und kooperativ war. Es ist im Interesse von uns allen, solche Zusammenarbeit auch für die Zukunft sicherzustellen.
Ein viel wichtigeres Treffen als in Brünn fand ein Monat später in Brüssel statt. Dort wurde nichts Kleineres als die Zukunft Europas vorgeplant und vorbereitet. Ich höre viele, die sagen, dass die Schlussfolgerungen dieses Treffens nicht ihren Erwartungen entgegengekommen sind. Das ist auch meine Position. Die dortige Debatte war – für einen, so ambitionierten Zweck – leider nicht tief und weitsichtig genug und hat die wirklichen Probleme der EU nicht angegangen. Die Politiker, die dort waren, fühlen und sehen diese Probleme wahrscheinlich nicht. Deshalb sind sie an der Oberfläche geblieben. Sie scheinen nur an reibungslosem und – für sie –problemlosem Funktionieren der EU interessiert zu sein.
Die Debatte über die Rechnungsformel der Mehrheitsabstimmungen hat das sehr klar demonstriert. Sie war ohne Zweifel interessant und – besonders für einige Länder – wichtig. Die Substanz des europäischen Problems liegt jedoch anderswo. Das Wichtigste ist nicht wie wir in der EU abstimmen sollen, sondern worüber wir abstimmen müssen, das heißt was wir nicht auf der Ebene der Mitgliedstaaten lassen wollen. In dieser Hinsicht war für mich und für die wirklichen und wahrhaften europäischen Liberalen der letzte EU-Gipfel eine große Enttäuschung.
Die dort versammelten Politiker haben – bewusst oder unbewusst – entschieden, mehr Kompetenzen nach Brüssel zu senden und das Vetosystem in wichtigen Bereichen zu eliminieren. Das sehe ich als einen großen Fehler. Als einen noch größeren Fehler sehe ich die Tatsache, dass sie es den Europäern, das heißt den Menschen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten, nicht klar und deutlich gesagt haben. Sie sollten allen laut sagen, dass sie eine radikale Verlagerung der Kompetenzen, praktisch die abgelehnte EU-Verfassung, gebilligt haben.
Ich bin überzeugt, dass diese Entwicklung nicht positiv ist und dass es besonders inakzeptabel ist, dass jede Kritik von solchen Tendenzen als politisch inkorrekt, als Pessimismus oder Skeptizismus, als reaktionäre Position, oder sogar als politische Blindheit bezeichnet wird.
Das kann man nicht akzeptieren. Die Sorge um Freiheit, Demokratie und Prosperität, die wir alle – glaube ich – teilen, ist nicht inkorrekt und ist nicht reaktionär. Das muss ich immer wiederholen. Mein Leben in der kommunistischen Ära gibt mir – und nicht nur mir, sondern vielen anderen die langen Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang leben mussten – eine besondere Empfindlichkeit, die mich zwingt, solche Tendenzen, Pläne und Projekte kritisch anzusehen.
Diese kritischen Argumente wollten die Leute wie Hans-Gert Pöttering, Jo Leinen, Josep Borell oder Elmar Brok nicht hören. Sie lehnen leichtsinnig alle Einwände ab, die nicht zu ihren Vorstellungen passen. Sie kritisieren diese Einwände a priori und parodieren sie. Auch das haben wir in den kommunistischen Zeiten erlebt und deshalb wissen wir, dass wir das nie ignorieren oder unterschätzen dürfen.
Diese meine kritische Ansicht bedeutet nicht, dass ich gegen die europäische Integration bin, dass ich in dem freundlichen, friedlichen, gegenseitig günstigen, alle bereichenden Zusammenleben der europäischen Länder nur Freihandelzone sehe und suche, dass ich für die Nichtkooperation und Nichtzusammenarbeit der europäischen Länder bin, dass ich die alten Antagonismen in Europa wieder ins Leben zurückrufen wünsche, dass ich eine neue Phase von Nationalismus einführen wollte, dass ich den jugoslawischen Syndrom in anderen Ländern Europas beleben möchte, oder dass ich die positiven Ergebnisse der bisherigen europäischen Integration nicht sehe und schätze. Etwas solches zu behaupten ist nur eine unfaire Karikatur meiner Position.
Meine Kritik bezieht sich „nur“ auf die – besonders in den letzten Jahren entstandenen oder verstärkten – Formen und Methoden der europäischen Integration, die die ursprüngliche Integration zur Unifikation umgestalten. Der Unterschied zwischen Integration und Unifikation ist groß, aber verständlich. Für die Orientierung in den heutigen europäischen Debatten ist aber das Verständnis dieses Unterschiedes absolut unentbehrlich. Die heutige permanente Bewegung der EU zu „ever-closer Europe“, zu der so genannten Vertiefung, zur schnellen politischen Vereinigung, und besonders zum Supranationalismus sehe ich als nicht nur unnötig, sondern auch als politisch gefährlich und ökonomisch bremsend.
Diese Versuche und Ambitionen, die ohne authentische europäische Identität und ohne den europäischen Demos durchgesetzt werden, stellen ein wirkliches Problem dar – für mich und, ich glaube und hoffe, für uns alle. Sie beschädigen unsere Freiheit und Demokratie, diese – für uns in Europa – so hoch geschätzte Werte, die aber ohne Mechanismen und Institutionen der parlamentarischen Demokratie in einem klar definierten Gebiet des Staates nicht realisierbar sind. Das diskutiert man heute in Europa mit Hilfe (oder unter dem Deckmantel) von verschiedenen Terminen. Die wichtigsten von ihnen sind „das demokratische Defizit“, „die Postdemokratie“, „der Verantwortlichkeitsmangel“.
Über diese – ohne jene Zweifel existierende – Phänomene der heutigen EU zu sprechen ist kein Antieuropäismus. Es stellt keinen Import des nichteuropäischen Denkens dar. Es bedeutet keine Negation der ganzen 50 Jahre der europäischen Integration. Man will damit nur darauf aufmerksam machen, dass man mehr Integration, und weniger Unifikation braucht, dass man mehr horizontaler Kooperation der Länder, und weniger vertikaler Reglementierung, Regulierung, Harmonisierung und Standardisierung benötigt, dass man mehr von Institutionen der Nationalstaaten, und weniger von EU-Institutionen in Brüssel bedarf. Kurz zusammengefasst, dass man mehr Demokratie als Postdemokratie verlangen muß. Der Juni 2007 EU-Gipfel hat aber ganz anders entschieden.
Das alles sieht man nicht nur auf der politischen Ebene. Es gibt auch wichtige ökonomische Nebeneffekte. Nicht nur Freiheit und Demokratie sind bedroht, sondern auch unsere Prosperität. Dies wird durch das – in Europa dominierende – Modell der sozialen und heute auch ökologischen Marktwirtschaft verursacht, das sehr weit von den freien Märkten entfernt ist. Dieses Modell bremst die freie Aktivität der Menschen, glaubt mehr an den Staat als an den Markt und führt neue und neue Methoden des Staatsinterventionismus ein. Dieses Modell betrachtet irrtümlich das „Market Failure“ als gefährlicher als das „Government Failure“. Auch das dürfen die Leute aus den ehemaligen kommunistischen Ländern nie akzeptieren. Diese Fragen gehören leider nicht zu den Hauptthemen der heutigen europäischen Debatte. Die französische Eliminierung des Adjektivs „frei“ von dem Substantiv „Wettbewerb“ im Text des Kommuniqué ist ein Schritt in die falsche Richtung.
Dieses Denken, diese Ideologie des Sozialdemokratismus und Environmentalismus, hat die EU nicht erfunden. Es existierte vor der Unterzeichnung der Römer Verträge. Die seriöse Frage aber ist, was dazu die EU zugelegt hat. Ich habe Angst, dass dieser Beitrag nicht klein war, da es zwei wirksame Wege (oder Mechanismen) gab und gibt, die das ermöglichen.
Auf der einen Seite ist es der Transfer von Kompetenzen von den Mitgliedstaaten, wo die Demokratie – das heißt die Kontrolle der Politiker durch die Bürger – realisierbar ist, nach Brüssel, wo sie nicht realisierbar ist. Dieser Transfer, diese Verschiebung von Kompetenzen, erhöht die Rolle der Politiker und der Bürokraten und vermindert die Rolle der Menschen. Die Hauptfigur der EU ist nicht der Bürger, sondern der Beamte (das muss man auf Deutsch sagen, in anderen Sprachen klingt es nicht so gut). Er bringt mehr Planung, Regulierung, Kontrollierung und Koordinierung mit sich. Und das ist genau das, was in Europa heute dominiert. Dass es nicht positiv ist, zeigen ganz klar die statistischen Daten der europäischen Wirtschaft im Vergleich zu den Ländern, Regionen und Kontinenten, wo die Wirtschaftsfreiheit größer, und die Einmischung des Staates geringer sind.
Die zweite Hälfte meiner Argumentation ist mit der Eliminierung der Systemkonkurrenz verbunden, die die europäische Unifizierung, und damit die unnötige Harmonisierung und Standardisierung, mit sich bringt. Europa war immer ein Kontinent der Vielfalt, und diese Vielfalt bringt eine produktive Konkurrenz mit. Die Konkurrenz braucht man nicht nur auf den Märkten von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch auf den Märkten von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen. In der Vergangenheit existierte in Europa eine solche Konkurrenz. Heute nicht mehr. Die Nivellierung und Gleichschaltung ist immer schlecht, und in diesem Bereich ist es noch deutlicher.
Dazu kommt noch eine andere begleitende Tendenz – der Fakt, dass die Harmonisierung und Standardisierung in der heutigen Ära immer nach oben geht, das heißt in die Richtung mehr Regulierung und mehr Reglementierung. Dieses Phänomen selbst macht unser Leben mehr von oben dirigiert und weniger frei. Auch das ist leider die unerwünschte Konsequenz der europäischen Unifizierung.
Die Harmonisierung und Standardisierung in einem nicht-homogenen Raum bringen immer mehr Kosten als Nutzen mit sich. Die Parameter, die für einige vorteilhaft sind, komplizieren den anderen das Leben. Die Idee „one size fits all“ ist ohne Zweifel sehr problematisch. Die Wechselkurse, Zinssätze, Steuersätze, soziale, ökologische und viele andere Standards erhöhen die Kosten und bedrohen unsere Konkurrenzfähigkeit und deshalb unsere Prosperität.
Am Anfang meiner Rede habe ich über meine Sorge um Freiheit, Demokratie und Prosperität in Europa gesprochen. Ich habe mich bemüht, die Ursachen meiner Sorge zu klären. Es macht mich nicht glücklich, dass es so ist und dass ich mich in dieser Hinsicht leider nicht irre.
Václav Klaus, Rede an der Festakademie des Herbert-Batliner-Europainstituts, Salzburg, 28. Juli 2007
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