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Deutsche Seiten, 17. 9. 2009
Ich bedanke mich für die Einladung zu der heutigen Debatte im Rahmen der sehr bekannten Passauer Gespräche. Die Gelegenheit, mit Kardinal Schönborn, einer so bedeutenden Persönlichkeit des heutigen Europas, zusammentreffen und diskutieren zu können, schätze ich sehr hoch.
Heute Abend werden wir hier bestimmt nicht die Details der christlichen Lehre diskutieren, denn auf diesem Gebiet wäre ich nicht der kompetenteste Gesprächspartner. Die uns zur Verfügung stehende Zeit würde auch nicht ausreichen, die aktuellen und sich immer wiederholenden Fragen der Beziehungen zwischen Kirche und Staat besprechen zu können. Auf der anderen Seite werde ich hier auch nicht eine Diskussion über alternative Hypothesen der Entstehung der heutigen Finanz- und Wirtschaftskrise oder ähnliche Themen meines Fachgebietes, der Volkswirtschaftslehre, zur Diskussion anbieten.
Das Thema – das die Organisatoren gewählt haben – Gibt es eine gemeinsame Idee Europas? – ist auf den ersten Blick fast für jeden Menschen ein geeignetes Thema, denn es verlangt keine fachlichen Kenntnisse einer Profession oder einer Wissenschaftsdisziplin. Ebenso gut kann man aber auch sagen, dass es für niemanden ein Thema ist. Kaum jemand kann es für sich selbst beanspruchen. Niemand kann behaupten, für sollche Diskussion komparative Vorteile zu haben. Solche komparativen Vorteile sind aber bestimmt nicht bei denen zu finden, die sich selbst für große Europäer der Gegenwart halten, nur weil sie schon vergessen haben, woher sie kamen, und weil gerade sie dank der Großzügigkeit der EU-Institutionen wirkliches europäisches Leben führen – sie frühstücken in London, mittagessen in Warschau und abendessen in Lissabon. Das aber genügt nicht.
Ich sollte vielleicht verraten, dass ich, als sich das Datum unseres heutigen Gespräches näherte, anfing, mich über mich selbst zu wundern, wie ich es wagen konnte, die Teilnahme an dieser Diskussion, darüber hinaus noch in der deutschen Sprache, anzunehmen. Trotzdem traue ich es mir, gleich am Anfang die Frage zu stellen, ob die ganze heutige Veranstaltung nicht auf einer falschen Prämisse steht. Diese Prämisse besagt, dass unser Kontinent eine Idee hat, dass er sie haben sollte und dass es nur darum geht, ob wir sie schon kennen oder ob wir sie noch nicht kennen.
Ich möchte nicht missverstanden werden. Niemand zweifelt daran, dass es historisch gesehen einen europäischen zivilisatorischen Raum mit seinen judaistisch-christlichen Wurzeln und dem Konzept der Freiheit von Menschen und ihrer Rechte gibt, der von den anderen Regionen der Welt, z. B. der asiatischen, unterschiedlich ist. Auf dieser Grundlage ist im Laufe der Geschichte in Europa die Zivilisation herangewachsen, so wie wir sie heute kennen. Wenn wir ihren größten gemeinsamen Nenner (oder ihre wichtigste Charakteristik) finden wollten, dann würde ich einen einzigen Begriff wählen: die Freiheit, obwohl uns diese Charakteristik nicht von der nordamerikanischen Variante unterscheidet.
Das ist eine Sache. In den letzten Jahrzehnten realisiert sich aber auf unserem Kontinent ein Versuch, ein künstliches Konstrukt namens Europäische Union zu gestalten. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Versuch, in seiner heutigen Variante, nicht im Konflikt zu dem seit Jahrhunderten andauernden Kampf um die Freiheit ist. Gerade das ist die Ursache für meinen wohlbekannten Zweifel an der heutigen Entwicklung der Europäischen Union.
Europa ist bestimmt
- keine Nation oder „Übernation“, es gibt kein europäisches Volk, kein Demos,
- kein homogenes Ethnikon (keine ethnische Einheit),
- keine gesamtkontinentale Gemeinschaft,
- kein kulturell homogenes Gebiet,
- keine Entität mit einem zielbewussten Verhalten, mit einem Behaviour (ein Ökonom würde sagen, dass es keine Subjektivität hat).
Europa als Kontinent hat keine Geschichte, obwohl es hier im Laufe der Zeit vieles geschehen ist. Es gibt Geschichte Frankreichs, Spaniens, Deutschlands, der Tschechischen Republik. Es gibt Geschichte Bayerns und anderer Bundesländer. Die Bemühungen gemeinsame Geschichte Europas zu präsentieren – nur um politisch korrekt zu sein – und damit eine künstliche Realität zu schaffen, ist gefährlich – nicht nur für uns heute, sondern auch für die nächsten Generationen.
Vor einigen Jahren gab es einen Versuch, ein gemeinsames Lehrbuch der Geschichte Deutschlands und Frankreichs zu schreiben. Es endete mit einem Fiasko. In Europa gibt es kein kollektives Gedächtnis, kein „shared memory“. Die heutigen Bemühungen, die Lehrbücher der europäischen Geschichte zusammenzustellen, können nur zur Falsifizierung der Geschichte führen. Die Geschichte Europas wird durch Autoren dieser Bücher nur ex-post konstruiert.
All dies sage ich, ohne zu behaupten, dass es unmöglich ist, in Europa eine von Menschen organisierte Konstruktion zu gestalten, eine Europäische Gemeinschaft oder Union, die auf einer rationellen Auswahl von Sachen und Angelegenheiten beruht, die von einem einzigen Ort geregelt und/oder gemeinsam ausgeübt werden. Für einen historischen Irrtum halte ich aber die Tatsache, dass diese Konstruktion den Ideen der heutigen Exponenten des Europäismus folgen sollte. Es gibt ohne Zweifel einige gesamteuropäische „public goods“ (öffentliche Güter) und einige allgemein akzeptierte Werte. Dort sollten wir nachschauen. Sie sind wichtig, aber die gesuchte europäische Idee schaffen sie damit nicht.
Eine ganz andere Sache ist, ob ein ideologisches Konzept (ein Glaube) – sei es religiös (im Falle des Christentums) oder sekulär (Freiheit, Menschenrechte, Humanismus) einen „europaintegrierenden“ Effekt hatte und hat. Vielleicht schon. Wenn dies Herr Kardinal verteidigen wird, werde ich Ihm nicht widersprechen.
Ich bin froh, in Europa leben zu können und zum Europa zu gehören. Europa ist für mich einer von meinen wichtigsten Referenzrahmen im geistlichen und kulturellen Sinne. Das ist nicht wenig. Aber mehr ist es auch nicht. Eine gemeinsame Idee hat Europa nicht, es kann sie nicht haben und sie ist für Europa auch nicht notwendig.
Václav Klaus, Passauer Gespräche, Mediazentrum der Verlagsgruppe Passau, Passau, 16. September 2009
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