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Deutsche Seiten, 19. 2. 2009
Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, meine Damen und Herren,
Vielen Dank für die Einladung zu ihrem heutigen Forum. Die Gelegenheit hier sprechen zu dürfen, schätze ich sehr hoch. Es ist auch mein erster Besuch in Bochum und in diesem Teil Deutschlands.
Wenn ich das richtig verstehe, wird ihr Forum seit langer Zeit Themen gewidmet, die sich nicht mit aktuellen parteipolitischen Fragen befassen, sondern mit Themen, die unsere Gegenwart übersteigen. Die Zukunft Europas ist ein solches Thema. Wenn ich aber von Herausforderung Zukunft höre, frage ich mich, ob die Zukunft wirklich eine Herausforderung ist, beziehungsweise in welchem Sinne. Für mich ist eine wirkliche Herausforderung die Gegenwart, denn dort schaffen wir die Voraussetzungen für die Zukunft. Die Flucht in die Zukunft ist nicht mein Stil.
Es gibt Leute, die die Ambition haben, die Zukunft zu projektieren, zu planen oder vorherzusagen. Zu dieser Gruppe gehöre ich nicht. Solche Fähigkeit habe ich nicht. Soviel Courage habe ich auch nicht. Ich kann hier heute nur darüber sprechen, was ich in Europa sehe und was ich für notwendig halte, um eine Zukunft zu haben, in der man gerne leben wollte. Ich muss aber sofort sagen, dass ich – wenn ich die heutige Situation sehe – seriöse Befürchtungen um die Freiheit, Demokratie und freie Märkte in Europa habe.
Eine Sache ist klar. In der Zukunft wird die Entfernung eine weniger wichtige Rolle spielen. Heute früh war ich in Prag, dann ein paar Stunden in Brüssel, in dem Europäischen Parlament, wo ich – als Präsident einer der neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union – eine offizielle Rede gehalten habe, und jetzt bin ich hier, in Bochum. Für die Generation meiner Eltern wäre so etwas unvorstellbar.
In meiner Rede in Brüssel habe ich – auf der einen Seite – über die starken Motivationen der Bürger der Tschechischen Republik zur Teilnahme an dem europäischen Integrationsprozess gesprochen. Es sollte aber für niemanden eine Überraschung sein. Auch in der kommunistischen Zeit wussten wir, dass wir „im Herzen Europas“ sind, und dass wir zu Europa gehören.
Auf der anderen Seite habe ich in meiner Rede einige Tendenzen in der heutigen EU analysiert, die ich als problematisch sehe – unter anderem die beschleunigte Vertiefung der politischen Integration, die Drehung vom Intergovernmentalismus zum Supranationalismus, den Aufgang vom Europäismus, einer Ideologie, die die heutige Zeit in Europa charakterisiert und vorausbestimmt. * Diese Themen kann ich auch heute Abend nicht unbeachtet lassen.
Auf Einladung der Bertelsmann Stiftung, habe ich im letzten Jahre in Berlin eine Rede über die Zukunft Europas gehalten. Als Belebung oder Erfrischung meiner damaligen Argumentation habe ich auch über zwei musikalische Paradigmen gesprochen: Beethovens Ode an die Freude und Schönbergs Serenade. ** Diese Analogie – wie alle andere – ist bestimmt nur eine Analogie. Mit ihrer Hilfe wollte ich eine Frage stellen, die ich für grundsätzlich halte: Sollen wir über unsere Zukunft romantisch träumen oder sollen wir die Kakophonie, die die real existierenden Interessen und die innerhalb des europäischen Kontinents durchgehenden Tendenzen ausdrückt, ernst nehmen? Die Ode an die Freude, die künstliche Ergänzung der Neunten Symphonie, ist alles, nur nicht die Reflexion der Realität. Die Sucht nach der allgemeinen Verbrüderung der Menschheit ist ohne Zweifel etwas lobenswertes, hat aber mit der Realität der Zeit vor 200 Hundert Jahren, aber auch der heutigen Zeit und aller Zeiten, die wir uns vorstellen können, nicht viel gemeinsam.
Schönberg war einer der ersten, die eine ganz neue Weise der Organisation der Töne, die später Dodekaphonie genannt wurde, entdeckt haben. Sie bedeutete eine totale Negation der Tonhierarchie, die die Basis der harmonischen Musik dargestellt hat. Diese Technik war – meiner Meinung nach – nicht nur ein Produkt der Musikselbstentwicklung. Sicherlich hat sie auch die Gefühle des Autors über die damalige Realität ausgedrückt. Wenn wir heute über die Zukunft Europas seriös diskutieren wollen, müssen wir weniger an Romantismus und mehr an die Realität, weniger an Beethoven und mehr an Schönberg denken.
Die Tendenzen, die ich heute in Europa sehe, sehe ich mit Augen von jemandem, der in der kommunistischen Ära eine erhöhte Empfindlichkeit zur Frage der Freiheit erworben hat. Auch deshalb halte ich die Freiheit für das Leitprinzip jener menschlichen Gesellschaft, in der man leben wollte. Ist das die Position von uns allen? Ich bin mir nicht sicher. Das Wort Freiheit wird von vielen relativ oft benutzt, die Frage aber ist, ob es auch ernst genommen wird. Ich habe Angst, dass es nicht der Fall ist. In einer Zeit, wenn das Ziel alles Strebens irgendein mythisches allumfassendes Gut ist, ist die Nachfrage nach Freiheit ungenügend.
Ich habe Angst auch davor, dass das nur wenige stört. Es könnte sein, dass man – mit dem Fall des Kommunismus und mit dem Verlust des Spiegels, den er dem Westen vorgehalten hat – das faktische Wesen unserer Zivilisation vergessen hat.
Welche sind die Tendenzen, die jeder, der sehen will, heute in Europa sieht? Es scheint mir, dass es in den letzten Jahren oder Jahrzehnten in Europa zu einer wichtigen, aber nicht genug verstandenen, analysierten und diskutierten Verschiebung gekommen ist. Die Richtung der Verschiebung an der Achse Bürger-Staat und an der Achse Markt-zentralistische Regulierung und Reglementierung war ganz anders als wir in den damaligen kommunistischen Ländern in dem glücklichen Moment des Falls des Kommunismus erwartet haben. Wir wollten näher am Bürger und am Markt und weiter vom Staat und seiner Regulierung sein als wir heute sind. Die formale Freiheit und Demokratie gibt es, aber in der Realität sehen wir ein mehr und mehr reguliertes System und Postdemokratie.
Im wirtschaftlichen Bereich sehe ich nicht nur die heutige Finanz- und Wirtschaftskrise, die eine dramatische, aber trotzdem „nur“ zyklische, d. h. kurz- und mittelfristige Erscheinung darstellt. Ich sehe auch eine, seit langer Zeit existierende Untergrabung der Vorbedingungen für eine gesunde Wirtschaft, für ein positives Wirtschaftswachstum und für die allgemeine Prosperität. Das postbismarcksche Sozialsystem und die ganz unnötige Verteuerung der Energie und die Begrenzung und Limitierung ihrer Angebots auf Basis von irrationellen environmentalistischen Vorstellungen bremsen die Wirtschaft. Ich bin mir nicht sicher, ob die europäische Wirtschaft die Anspruchbarkeit des heutigen Sozialsystems und den Angriff des Environmentalismus (Ökologismus) überstehen kann.
Der zweite Angriff ist relativ neu aber noch gefährlicher. Vor zwei Jahren habe ich ein Buch zu diesem Thema, zum Thema des Missbrauches der Hypothese der bevorstehenden Klimaänderungen für eine weitreichende Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft geschrieben. Seit Dezember 2007 steht das Buch – unter dem Titel „Blauer Planet in grünen Fesseln. Was ist bedroht: Klima oder Freiheit?“ – auch in deutscher Sprache zur Verfügung. *** Meine, dort verteidigte Position kann man in der folgenden Weise zusammenfassen:
- das Klima wechselt permanent und seine gegenwärtige Entwicklung ist – historisch betrachtet – keine Ausnahme;
- wahrscheinlich steigt die Oberflächentemperatur der Erde in den letzten Jahrzehnten an, aber mit wichtigen Unterbrechungen (z. B. in den letzten zehn Jahren) und nur sehr langsam und leicht. Ihre bis heute existierende Steigerung ist mit Projektionen von Treibhausgasmodellen, auf die sich das IPCC (die Zwischenstaatliche Sachverständigengruppe über Klimaänderungen) stützt, offensichtlich ganz inkonsistent;
- es gibt – trotz aller Deklarationen von „true believers“ – keinen wissenschaftlichen Konsens über die Rolle der Faktoren, die die heutige Klimaänderung verursachen. Die CO2-Konzentration (und CO2-Emissionen) für den entscheidenden Faktor zu halten ist nicht berechtigt;
- die Konsequenzen der realistisch vorstellbaren (und wahrscheinlichen) Klimaänderungen werden in der relevanten Zukunft nicht so groß sein, um die Menschheit zu bedrohen;
- die Menschen werden die Konsequenzen der potenziellen zukünftigen Klimaänderungen mit Hilfe von ganz anderen Technologien und mit viel höherem Niveau von Reichtum und Wohlstand als heute lösen müssen. Ihre Anpassungsfähigkeit wird genügend sein;
- die Ambitionen, das globale Klima zu ändern, sind nicht nur unnötig. Sie stellen die Vergeudung der knappen Finanzmittel dar, die den Menschen zur Verfügung stehen;
- die Regulierung, Reglementierung und Steuerung der Gesellschaft und der Wirtschaft, die mit der Ideologie der globalen Erwärmung verbunden ist, wird uns in eine neue Unfreiheit führen, in eine neue, von oben organisierte und dirigierte Gesellschaft, wo der Mensch nur am Rande stehen wird.
Von dieser Perspektive sehe ich die heutige Klimadebatte in Europa als nichts anderes als eine neue Runde in der ewigen Kontroverse zwischen Liberalen und Etatisten über das richtige Ausmaß der Zentralisierung, Kontrollierung und Planung der menschlichen Aktivitäten, das heißt der Menschen.
Ich bin davon überzeugt, dass das alles mit der institutionellen Entwicklung der Europäischen Union verbunden ist. Dieses Thema wurde in den letzten Jahren meistens im Rahmen der Debatte über die Europäische Verfassung oder über den Lissabon-Vertrag diskutiert. Die Debatte sollte aber ehrlich geführt werden. Heute habe ich in Brüssel ganz eindeutig gesagt: Für uns, d. h. für die Tschechen, hatte der EU-Beitritt keine Alternative. Es existiert in unserem Lande keine relevante politische Kraft, die unsere EU-Mitgliedschaft in Frage stellen würde. Das zu sagen ist aber nur eine Hälfte meiner Aussage. Die zweite Hälfte sagt folgendes: Die Methoden und Formen der Europäischen Integration haben eine Reihe von Alternativen und Varianten. Das muss akzeptiert werden.
Den heute erreichten Status quo der institutionellen Anordnung der EU für ein für immer unkritisierbares Dogma zu halten, ist ein Fehler. Er steht im Gegensatz zur mehr als zwei Jahrtausende dauernden Geschichte der europäischen Zivilisation. Ein ähnlicher Fehler ist die apriorisch postulierte Voraussetzung der einzig möglichen und richtigen Zukunft der europäischen Integration, die die „ever-closer Union“, d. h. die tiefere und tiefere politische Integration der EU-Mitgliedsstaaten, darstellt. Eine solche „ever-closer Union“ führt zu Defekten, die man heute in Europa als demokratisches Defizit, als Accountabilitätsverlust, als Entscheidungen der Auserwählten, nicht gewählten, als Bürokratisierung und Technokratisierung der Entscheidungen, bezeichnet.
Wir sollten nicht die Befürchtungen der Bürger der einzelnen EU-Mitgliedsländer unterschätzen. Sie fühlen, dass ihre Angelegenheiten wieder anderswo und ohne sie entschieden werden, und dass sie keine Möglichkeit haben, diese Entscheidungen zu beeinflussen. Der Erfolg der Europäischen Union lag bisher auch darin, dass die Stimmenstärke jedes Mitgliedslandes das gleiche Gewicht trug. Das zu ändern, wäre ein Fehler. Wir sollten nicht die Entstehung solcher Situation zulassen, in der die Bürger der Mitgliedsländer mit dem Gefühl der Resignation leben würden, weil ihnen das EU-Projekt fremd wäre.
Wenn ich alle diese Tendenzen sehe, habe ich Angst um die Zukunft Europas. Und meine ernstgemeinte Frage ist: dürfen wir diesen angetretenen Kurs weiter fortsetzen oder brauchen wir eine deutliche Wende dieses Kurses? Meine Antwort ist klar. Ich bin der Meinung, dass eine Unterbrechung der heutigen Entwicklung notwendig ist, weil die passive Extrapolation der Gegenwart keine guten Perspektiven bringt. Die folgenden zwei Fragen müssen beantwortet werden:
1) Wird die heute so unterschätzte und geschädigte parlamentarische Demokratie weiter funktionieren? Wird sie die wachsende Bedeutung der verschiedenen NGOs überstehen? Wird sie die massive Verschiebung der Kompetenzen von Nationalstaaten auf die kontinentale Ebene überstehen, wo nur die quasipolitischen, technokratischen Entscheidungen gemacht werden können? Sehen die Anhänger der unendlichen Vertiefung des europäischen Uninfizierungsprozesses diese Gefahr nicht?
2) Wird eine genügend hohe Arbeits- und Leistungsmotivation trotz dem existierenden Sozialsystem, das auf die Immunisierung der Qualität des Lebens der Menschen von ihrer faktischen persönlichen Leistung basiert, bleiben? Werden die Menschen nicht ihren Arbeitseifer verlieren? Was werden die Folgen der Unbereitschaft der Europäer, manche weniger angenehme oder weniger inspirative Professionen auszuüben, die trotzdem ausgeübt werden müssen?
Ich glaube, dass meine Antworten auf diese Fragen für Sie, nach meiner heutigen Rede, am mindestens implizit bekannt und verständlich sind. Was aber jetzt – mehr als je zuvor – notwendig ist, ist die Fortsetzung der freien Diskussion. Diese freie Diskussion darf nicht als Angriff auf die Idee der europäischen Integration selbst interpretiert werden, wie ich das so oft erlebe. Unsere unfreiwillige Erfahrung des Lebens im autoritativen kommunistischen System hat uns gezeigt, dass ein freier Meinungsaustausch eine notwendige Bedingung für eine wirkliche, funktionierende Demokratie darstellt. Nur das kann die heutige Europäische Union freier, demokratischer und prosperierender machen.
Václav Klaus, Rede im Rahmen des Projektes Herausforderung Zukunft, Christuskirche, Bochum,
19. Februar 2009
* Mehr in dem Aufsatz „Was ist Europäismus?“, Mladá fronta Dnes, 8. 4. 2006 (in der tschechischen Sprache), auf Englisch „What is Europeism?“, Center for Economics and Politics, Prague, 2006, beides auf www.klaus.cz
** „Zukunft Europas: Beethoven oder Schönberg, Ode an die Freude oder Dodekaphonie?“, Berlin, 23. April 2008, www.klaus.cz (auf tschechisch: „Budoucnost Evropy: Beethoven nebo Schönberg, Óda na radost nebo dodekafonie?“)
*** „Blauer Planet in grünen Fesseln. Was ist bedroht: Klima oder Freiheit?“, Carl Gerold’s Sohn Verlagsbuchhandlung, Wien, 2007.
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