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Deutsche Seiten, 21. 9. 2015
Die gegenwärtig in fast ganz Europa, aber insbesondere in Deutschland öffentlich geführte Diskussion über die Massen- (das heißt kollektive, nicht individuelle) Zuwanderung, die auf dem Begriff "Flüchtling" aufbaut, anstatt auf dem Begriff des Migranten, noch besser gesagt des ökonomisch-motivierten Migranten, ist unseriös, irreführend und durch ihre übertriebene political correctness sogar geradezu selbstmörderisch.
Die Sozialwissenschaften lehren uns (in diesem Fall sogar im seltenen Einklang mit dem gesunden Menschenverstand), dass für das reibungslose und produktive Funktionieren und die notwendige Stabilität einer jeden Gesellschaft der innere Zusammenhalt der Gemeinschaft unabdingbar ist. Die Wirtschaftswissenschaft spricht hierbei vom "Human- und Sozialkapital", ohne den ein gesund funktionierendes Staatswesen unmöglich ist.
Die heutige Debatte über die Zuwanderung ignoriert diese elementaren Fakten. Die von der Ideologie des Multikulturalismus benebelten Ideologen sehen darin kein Problem. Sie glauben, dass es möglich ist, die Gesellschaften in den einzelnen Staaten Europas problemlos mit den Migranten "aufzufüllen".
Migranten als Kittmittel für Europa
Daher überrascht es kaum, dass sich diese Politiker gar nicht die Aufgabe stellen, die gegenwärtige Migrationswelle anzuhalten. Sie beschäftigen sich ausschließlich damit, sie irgendwie zu bewältigen – sei es mit Geld, mit offenen Armen, mit Unterkünften und, besonders, mit der Verheißung eines neuen, besseren Lebens.
Warum ist das so? Ich möchte hier meinen Kollegen Jiri Weigl zitieren, der annimmt, es ist gerade der Sinn und Zweck einer solchen "Willkommenspolitik", den Zusammenhalt der bestehenden Gesellschaften Europas nachhaltig zu zerstören. Denn nur auf deren Trümmern können diese Politiker ihr "neues Europa" aufbauen – natürlich ohne uns, ohne denjenigen, die mit dem bestehenden Europa zufrieden sind. Aus den Migranten sollten die ersten "Angehörigen der erträumten europäischen Nation" werden, so Weigl.
Diese haben keinerlei Bindung zu irgendeinem der jetzigen Staaten Europas, können sich daher viel einfacher mit einem neuen multikulturalistischen Europa identifizieren. Die Migranten sollten als "Kittmittel" einer neuen europäischen Nation funktionieren.
Fataler Irrtum der Deutschen
Ein anderer Grund für das Verhalten vieler europäischer und insbesondere deutscher Politiker könnte deren naive Vorstellung sein, dass die massive Zuwanderung zwar kurzfristig ein paar unangenehme Folgen haben wird, die langfristigen Effekte dann aber ausschließlich positiv ausfallen werden. Das ist ein fataler Irrtum.
Die Annahme dieser Politiker, allen voran von Herrn Gauck und Frau Merkel, dass aus den Migranten motivierte, intelligente, gebildete und sofort einsatzbereite Arbeitskräfte werden, welche die alternden deutschen Arbeitnehmer ersetzen könnten, ist geradezu lächerlich. Sie steht im krassen Widerspruch zu allen Erfahrungen, die Deutschland bisher mit seinen Zuwanderern und Gastarbeitern gemacht hat.
Es ist bekannt, dass sich jeder Mensch seine grundlegenden Verhaltensmuster in der Jugend aneignet, die wichtigste Prägung erhält er meist in der Familie. Es ist daher auch möglich, dass die Befürworter der massiven Zuwanderung an die Macht der Umerziehung, der Manipulation und der Indoktrinierung glauben, dass sie von der Erschaffung eines neuen Menschen träumen, der ganz in der Tradition von Aldous Huxleys genialem Buch "Schöne neue Welt" gänzlich nach deren Vorstellungen geformt wird.
Die deutsche Einladung
Das ist fast eine kindische Vorstellung. Wolfgang Kasper, ursprünglich ein Deutscher, der seit einem halben Jahrhundert in Australien lebt, sagt dazu: "Es gibt zwar Ausnahmen, aber die Mehrheit der heutigen Migranten wird einen langsamen, mehrere Generationen dauernden Prozess der kulturellen Anpassung" durchgehen müssen. Kaspers weist auch auf die Tatsache hin, dass die zweite Generation von Zuwanderern ihre Integration in die europäische Gesellschaft ablehnt, sehr oft auch die ganze westliche Wertegemeinschaft. Gewinnen solche Tendenzen die Oberhand, droht der Prozess der "kulturellen Anpassung" unter umgekehrten Vorzeichen zu verlaufen.
Last but not least ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, warum die Migrationswelle gerade jetzt stattfindet. Was ist denn so umwerfendes geschehen, dass 40 Prozent der Migranten, die vorletztes Wochenende nach Bayern kamen, aus dem Kosovo kommen? Dort wird schon seit 15 Jahren nicht mehr gekämpft. Und warum kommen andere 40 Prozent aus dem Afghanistan, wo die bewaffneten Konflikte in der einen oder anderen Form bereits seit Jahrzehnten andauern? An der Lage der Migranten zu Hause gab es zur Zeit keine dramatische Veränderung.
Sie erhielten jedoch – mal explizit, mal implizit – die Botschaft, dass sie nun nach Europa einwandern können. Bestärkt durch ihre – sicher berechtigte – Frustration über die Verhältnisse zu Hause geben diese Menschen nun ihr Leben in ihrer Heimat auf und brechen nach Europa, meist Deutschland, auf. Das Verlassen ihrer angestammten Heimat ist oft mit horrenden Zahlungen an Schlepperbanden erkauft.
Europäische Lockrufe
Die Migranten folgen dem Lockruf der verantwortungslosen europäischen Politiker in Unkenntnis der Risiken und Bedrohungen, die auf sie – sowie auf ihre Kinder und Familienangehörigen – bei ihrem Weg warten, wie die Hunderten Toten im Mittelmeer auf traurige Weise bezeugen.
Sie alle folgen das Versprechen, dass es möglich ist, in Europa leben zu dürfen. Politiker wie Angela Merkel und Joachim Gauck bestärken sie durch ihre Aussagen darin. Vielleicht glauben diese Politiker, ihre Einladung wäre eine positive humanitäre Geste. Das sind sie nicht. Im Gegenteil. Sie sind ein Bärendienst für Europa. Ich habe tiefe Sorge um die Zukunft der europäischen Zivilisation. Es geht um nichts Geringeres.
Vaclav Klaus, Die Welt, 21. September 2015.
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